Um 01.35 wurde er durch ein lautes Geräusch, das eindeutig vom Erdgeschoss kam, geweckt. Das Schlafzimmer befindet sich im oberen Geschoss. Zum Leidwesen seiner Gattin hatte er – wenn auch sonst nicht mehr viel lief – ein halbscharf geladenes Gewehr genau in der Mitte des Ehebettes bei der kleinen Einbuchtung platziert. Schließlich wurde gerade in letzter Zeit wieder mehr eingebrochen und blödsinnige Vorschriften, dass Gewehr und Munition getrennt voneinander versperrt aufzubewahren sei, konnten ihn nicht aufhalten, sein Hab und Gut gegebenenfalls auch mit Waffengewalt zu verteidigen. Heute Nacht werde seine Gattin stolz auf ihn sein und ihre Witze über halbscharfe Dinge im Bett würden ein jähes Ende finden. Mit dem nun geladenen Gewehr in der Hand – einmal Repetieren reicht – geht er nun auf Zehenspitzen die Treppen hinunter. Da – ein Schatten – er schießt sofort. Er sieht zuerst Blut spritzen, glaubt an einen Treffer, die Brille vergessen im Badezimmer. Getroffen aber hatte er das im Vorzimmer befindliche Aquarium, was nun gut die Hälfte an Wasser verliert. Er geht weiter, wieder eine Bewegung. Der nächste Schuss trifft den Fernseher, den er erst heuer neu angeschafft hatte, nachdem der Silvesterabend etwas aus dem Ruder lief und dieser unbeabsichtigt von einer Rakete getroffen wurde. Der Einbrecher scheint nun in die Küche zu rennen. Er hinterher, Schuss, diesmal der schöne Herd eines deutschen Premium-Herstellers. Er ist nun doch deutlich außer sich, dass der Einbrecher immer noch durch das Erdgeschoss läuft und gibt weitere Schüsse ab. Der Kühlschrank und der in der Küche nicht eingeschaltete Lampenschirm – schließlich wollte er den Einbrecher im Dunkeln überraschen – teilen nun auch das Schicksal des Herdes und des Aquariums. Als der Schatten sich Richtung Vorzimmer bewegt, eilt er im Laufschritt hinterher und will wiederum schießen. Leider ist es im Vorzimmer nun doch sehr nass und er rutscht unbeabsichtigt fast aus, was zur Folge hat, dass er ausgerechnet mit dem nächsten Schuss seinen eigenen Fuss getroffen hat. Er schreit gerade wie von Sinnen, als seine Frau das Licht im Vorzimmer aufdreht und die Treppen heruntersteigt. Glasscherben, tote Fische, Wasser und Blut, das sich langsam auf dem Fußboden verteilt. „Bist du jetzt völlig übergeschnappt, ich habe gerade so gut geschlafen“, schmettert sie ihm hin. Nach einigen Minuten der Beruhigung wählt sie den Notruf und ihr Mann wird in das Krankenhaus gebracht. Die Polizei kann keine Einbruchspuren feststellen.
Am Morgen sah sie das ganze Ausmaß der Katastrophe. Neben diversen Einschusslöchern fand sie wohlschlummernd den Kater des Nachbarn auf der Wohnzimmercouch, der wie es schien, eine aufregende Nacht hinter sich hatte. Ihr Mann lüftete gestern noch bei offener Wohnzimmertüre und da wird dieser wohl aufgrund der mittlerweile doch frischen Nächte ins Haus gekommen sein. Als sie ihren Mann um ca. 11 Uhr im Krankenhaus besuchte, hatte sie schon die Scheidungspapiere ihres Anwalts in einem ersten Entwurf dabei und die feste Absicht, sich nunmehr im Bett den wirklich scharfen Dingen zu widmen.
Harald, 09. November 2019