Dattelschnaps

Manchmal geschehen bei uns im Orient die Dinge nicht so, wie wir es erwarten, aber das passiert anderswo auch. Was soll ich sagen? Wir wollen alles richtig ma­chen. Nicht immer gelingt es uns. Das gilt natürlich auch für mich. Ich mache aber immer alles so gut, wie ich es kann. Als pflichtbewusster Seher und Traum­deuter habe ich daher selbstredend an unserem jährlichen Traumdeutertreffen teilgenommen. Wir hatten anfangs geträumt und gedeutet, was das Zeug hielt, aber die Ergebnisse waren mau geblieben, bis zu dem Zeitpunkt, da Abed vorge­schlagen hatte, dass wir uns zur Abwechslung doch einmal ordentlich einen hin­ter die Binde gießen sollten, es sei zwar nicht erlaubt, aber das Träumen und das Deuten würde gleich viel besser flutschen, wenn wir uns betankten, und, was soll ich sagen, er hatte recht, wir fanden einen vollen Schlauch mit Dattelschnaps, aus dem wir uns reichlich bedienten, und es wirkte, da wir die berauschende Wirkung des Alkohols nicht gewöhnt waren, phänomenal, und wir träumten wild und aufregend und luzid und deuteten hemmungslos und priesen unser Metier als das beste der Welt, und als wir aus lauter Begeisterung den ganzen Dattelschnaps aus dem Schlauch gesoffen hatten, erreichten wir völlig neue Bewusstseinssphären, die wir ohne Nachschub nicht mehr toppen konnten, und weil kein Tropfen mehr da war, den wir noch trinken hätten können, erklärten wir hochzufrieden das Treffen für beendet und machten uns auf den Heimweg, jeder in die Richtung, aus der er gekommen war. Noch nie zuvor in meinem Leben war ich so abgefüllt gewesen. Da an aufrechten Gang nicht zu denken war, kroch ich mühselig auf al­len Vieren durch den Sand. Als die Dunkelheit hereinbrach, kam ich nur noch robbend vorwärts. Es ging nur quälend langsam voran, und weil bei uns im Ori­ent manchmal, wenn auch äußerst selten, das Wetter verrückt spielt, fing es aus­gerechnet in jeder Nacht, in der ich aus eigener Schuld so geschwächt unterwegs war, zu schneien an. Das Ganze wuchs sich zu dem heftigsten Schneegestöber aus, das das Zwischenstromland seit Menschengedenken erlebt hatte. Ich konnte vor lauter Dunkelheit und Schneeflocken nichts mehr erkennen, nicht einmal meine eigene Nasenspitze, die nur zwei Fingerbreit von meinen Augen entfernt war. Was soll ich sagen? Obwohl ich fürchtete, dass ich verloren war, robbte ich tapfer weiter. Irgendwann, als mich die Kräfte endgültig verließen, bemerkte ich nicht, dass es vor mir plötzlich abwärts ging. Ich verlor den Halt und stürzte in eine Art Loch, wie ich annahm, dessen Abmessungen ich aber wegen des fortdau­ernden Schneegestöbers nur erahnen konnte. Endlich sah ich es ein, dass es sinnlos war, dass ich mich weiter fortbewegte. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich tastete mit meinen Händen die unmittelbare Umgebung ab und fand schließ­lich zu meiner Erleichterung eine ein wenig erhabene Stelle, die sich angenehm weich anfühlte. Ich vermutete, dass es sich um eine Art Moos oder um Flechten handelte, die mir in dieser aussichtlosen Lage als Kopfkissen dienen mochten. Vage nahm ich noch einen üblen Gestank war, der mich an verfaultes Fleisch erinnerte, aber ich wollte dem Schicksal nicht undankbar sein, bettete mein Haupt auf die weiche Stelle, deckte mich mit meinem Staubmantel zu und schlief auf der Stelle ein. Weil aber bei uns im Orient bisher nach jeder noch so schlim­men Nacht am folgenden Morgen die Sonne aufgegangen ist, verhielt es sich dies­mal genauso. Als ich die Augen aufschlug, sah ich, dass ich in einem Loch lag, an dessen Rand der König stand und mich entsetzt anstarrte. Noch bevor ich ihm huldigen konnte, schrie er „Vorsicht!“ und deutete hektisch nach links. Als ich in die genannte Richtung blickte, sah ich das aufgerissene Maul eines ausgewachsenen männlichen Löwen, der gerade zu einem Sprung auf mich ansetzte. Mir fiel nichts Besseres ein, als meine Backen zu blähen und dem Raubtier so kräftig wie möglich ins Gesicht zu blasen. Es war genau das Richtige. Benebelt von meinem immer noch penetranten Dattelschnapsatem brach das Tier seinen Sprung ab und wich jaulend ein paar Schritte zurück. Ich erhob mich und sah mich unsicher schwankend um. Das Moos, auf dem ich geschlafen hatte, war, wie mir schlagartig klar wurde, der Rücken einer Löwin. Um mich herum befanden sich noch ein halbes Dutzend weitere Löwen. „Daniel, du alter Sauf­kopf“, schrie der König von oben, „was um Himmels Willen treibst du in der Lö­wengrube?“ Ich antwortete nicht sofort, da zwei weitere der Raubtiere einen Ver­such unternahmen, mich anzugreifen. Mit meinem Schnapsatem hauchte ich sie in letzter Sekunde gerade noch in die Flucht. „Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht“, sagte ich dann zum König, „aber ich könnte wirklich Hilfe gebrauchen.“ Mit meiner Schnapsfahne wehrte ich nun auch noch die Löwin ab, auf deren Rücken ich genächtigt hatte und die nun ebenfalls erwacht war und mich als ihre Beute auserkoren hatte. Der König wies zwei Bedienstete an, ein Seil zu mir in die Grube hinunterlassen, an dem ich mich festklammerte. Mit vereinten Kräften zogen sie mich hinauf, aus der Gefahrenzone. Oben sah mich der König kopfschüttelnd an. „Gerade du als Traumdeuter und Seher hättest es vorher wis­sen müssen“, murmelte er tadelnd. „Eine unglaubliche Geschichte. Ich werde sie aufschreiben lassen für die Nachwelt.“ Ich musste mich noch einmal hinlegen, um in meinem Bett meinen immer noch bemerkenswerten Restrausch auszu­schlafen. Als ich am nächsten Morgen erwachte, ließ der König mir eine Papy­rusrolle bringen, auf der mein kleines Abenteuer schon aufgezeichnet war. Beim Lesen stellte ich fest, dass die aufgeschriebene Version ein wenig anders und viel schmeichelhafter für mich ausgefallen war. Als ich den König nach dem Grund fragte, sagte er mir, dass die Geschichte Teil eines Heiligen Buches werden solle. Dafür könne man nun wirklich keine besoffene Schnapsgeschichte nehmen. Das sei nicht nur bei uns im Orient so, sondern überall anders auch.

Michael, 15. November 2019

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