An einem ungemütlichen nebligen Novemberabend spitze ich meine Ohren. Es klopft draußen an meiner Fensterscheibe. Es klingt wie das Hämmern eines mächtigen Schnabels. Mein Herz schlägt wild. Das muss der Totenvogel sein, denke ich, der mich heimholen will ins ewige Reich der Nacht. Ich blicke hinaus, kann in der Dunkelheit aber nichts erkennen. Ich kippe das Fenster. „Gleich komme ich, Totenvogel!“, rufe ich hinaus. „Nur noch eine letzte Mahlzeit!“ Ich mache das Fenster wieder zu, gehe zum Brotkasten und an den Kühlschrank und richte mir ein Käsebrot her, wie immer mit viel Senf. Ich beiße herzhaft ab, weil es ja das letzte Brot ist, das ich im Diesseits verzehren werde. Während ich noch kaue, klopft der Schnabel wieder an meine Scheibe, noch hartnäckiger als beim ersten Mal. Wieder öffne ich das Fenster einen Spalt breit. „Geduld, Totenvogel!“, rufe ich hinaus. „Nur noch ein letztes Getränk!“ Ich schließe das Fenster abermals, steige hinunter in den Keller, hole eine Flasche Rotwein und bereite mir ein Gläschen Punsch zu, wie immer mit einer Gewürzgurke. Ich nehme einen herzhaften Schluck, weil es ja das letzte Getränk ist, das ich im Diesseits konsumieren werde. Während ich noch gierig trinke, klopft der Schnabel ein drittes Mal an meine Scheibe, mit furchterregender Heftigkeit. Wieder öffne ich das Fenster, wieder ein wenig weiter als beim vorigen Mal. „Nur einen Augenblick noch, Totenvogel!“, rufe ich hinaus. „Ein letztes Mal noch will ich meine Gattin lieben!“ Ich schmeiße das Fenster zu und renne ins Schlafzimmer und wecke meine Frau Molly, die sich am Nachmittag bereits hingelegt hat, damit sie fit ist für ihre Nachtschicht bei der Telefonseelsorge, die bald beginnt. „Lass uns ein letztes Mal Liebe machen, Molly!“, flehe ich verzweifelt. „Der Totenvogel wartet nämlich draußen vor dem Fenster schon auf mich!“ „Meinetwegen“, murmelt Molly verwundert, weil ich Derartiges schon lange nicht mehr von ihr begehrt habe. Sie rutscht ein wenig zur Seite, um mir Platz zu machen. Wir lieben uns kurz und routiniert wie ein altes Ehepaar. Wieder klopft es draußen, aber nicht mehr am Fenster, sondern an der Tür. Es klingt nicht mehr wie ein Vogel, sondern wie das Gehämmer von Fäusten. Mich schaudert. Der Totenvogel hat sich Verstärkung geholt, denke ich, weil ich ihm nicht gehorche. Ich habe keine Wahl. Ich öffne die Tür. Draußen steht der Nachbar Zeckenwimmer, mit mürrischem Gesicht. „Nein, ich bin kein Totenvogel!“, ruft er ärgerlich. „Es kümmert mich nicht im Geringsten, was du isst und was du trinkst und ob du dann mit deiner Frau schläfst. Jetzt nimm mir aber endlich die verdammte Sendung ab, die ein Paketdienst für dich hiergelassen hat am Vormittag!“
Michael, 28. Dezember 2019