Kontrapunkt

Weichbirner, der ein lausiger Klavierspieler war, hegte seit seiner Kindheit den Wunsch, einmal auf einer Kirchenorgel spielen zu dürfen. Da er als Handelsreisender für eine Gummiknüppelfabrik jahrelang sämtliche Polizeistationen im deutschsprachigen Raum abgeklappert hatte und ständig auf Achse gewesen war, hatte sich nie eine passende Gelegenheit ergeben. Im Ruhestand wurde die Sehnsucht nach dem Orgelspiel immer heftiger. Da Weichbirner in der Nähe von Ansfelden in Oberösterreich aufgewachsen war, fasste er sich ein Herz und fragte er beim Stift St. Florian an, ob man gewillt sei, ihn, Weichbirner, einmal an die berühmte Brucknerorgel in der Basilika heranzulassen, selbstverständlich unter Aufsicht und mit einer kurzen Einschulung. Mit seiner dürftigen Ausbildung, entschied der Propst, nachdem er sich Weichbirners Anliegen angehört hätte, sei derlei leider nicht möglich. Man müsse der Anfänge wehren, setzte er hinzu, sonst könne ja jeder dahergelaufene Tastenpopanz aus allzuviel gutgemeinter Nachgiebigkeit einen Anspruch darauf ableiten, auf der Orgel des Meisters dilettieren zu dürfen. So schäbig wollte Weichbirner sich nicht abschasseln lassen. Er besorgte sich Einbruchswerkzeug, mietete sich in einer Frühstückspension in der Nähe des Stifts ein und wartete das Hereinbrechen der Nacht ab, ehe er sich im Schutz der Dunkelheit an die Stiftskirche heranpirschte und sich gewaltsam Zutritt zur Gruft verschaffte, indem er die Eingangstür aufhebelte. Er stieg hinunter und fand im Lichtkegel seiner gedimmten Taschenlampe mühelos den Sarg des Meisters auf dem Sandsteinsockel. Als Weichbirner genauer hinsah, bemerkte er einen verdächtigen Rotton in dem kleinen Totenensemble und als er seine Hände prüfend über den Sarg hielt, spürte er eine Wärme, die dort nichts zu suchen hatte. Weichbirner schauderte. Er spielte mit dem Gedanken an einen sofortigen Rückzug, als er plötzlich von oben aus der Basilika Geräusche vernahm, die von zahlreichen Schritten auszugehen schienen. Weichbirner schlich zur Treppe und hörte weitere Geräusche, die ihn an Musik erinnerten. Er nahm die ersten Stufen und spitzte die Ohren. Es war Musik, Orgelmusik, es bestand kein Zweifel, und sie entströmte der großen Orgel, die zu spielen Weichbirner vom Propst verwehrt worden war. Vom oberen Absatz der Treppe sah er entsetzt, dass der gesamte Innenraum der Basilika in ein diffuses rotes Licht getaucht war. Weichbirner blickte auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. Er trat in die Basilika und stellte sich auf die steinere Platte, in die Anton Bruckners Name eingemeißelt war. Plötzlich hörte Weichbirner eine Stimme, die seinen Namen rief und die ihn aufforderte, näherzutreten. Die Stimme schallte von der Orgelbank herunter, auf der ein schwarz und rot gekleideter Mann saß, der dem Propst wie aus dem Gesicht geschnitten war und der Weichbirner zu sich heranwinkte. Es sei doch sein, Weichbirners, Herzenswunsch, rief er, dass er einmal die Orgel schlagen dürfe. Hier und heute, setzte der Fremde hinzu, dem kleine Hörner aus den Schläfen wuchsen, sei die beste Gelegenheit dazu. Er biete ihm, Weichbirner, ein kleines Geschäft an. Er dürfe an die Manuale und Pedale, wenn er sich schriftlich verpflichtete, nach seinem Ableben seine Seele herauszugeben. Weichbirner, der das Ganze mittlerweile für einen abartigen Scherz hielt, forderte sein Gegenüber auf, den Hokuspokus endlich zu beenden und zuzugeben, dass er der Propst sei, der sich eine makabere Komödie mit ihm erlaubt hätte. „Der Propst?“, lachte der unheimliche Organist schallend. „Nie im Leben! Ich bin der Antipropst!“ Mit seinen Armen vollführte er mehrmals hintereinander Aufwärtsbewegungen. Aus der Deckung der Kirchenbänke erhoben sich langsam schaurige, pelzige Gestalten, die ebenfalls Hörner und an ihren Füßen Hufe trugen. „Spielen wir eins für unseren Gast!„, rief der Antipropst und gab den Gestalten, die sich langsam auf Weichbirner zubewegten, den Einsatz. Er selbst begann ein wirres Präludium auf der Orgel, das endlich in die Schlussfuge von Bruckners Te Deum mündete, mit dem Weichbirner vertraut war. Die pelzigen Gesellen, die immer näher rückten, fingen plötzlich an zu singen. Entsetzt stellte Weichbirner fest, dass sie von der Textvorlage abwichen und anstelle von „In te Domine Speravi“ „In te Lucifer speravi“ sangen. Der Halbkreis, den die Helfer des Antipropstes um Weichbirner zogen, wurde immer enger. In letzter Sekunde entschloss er sich zur Flucht, ergriff das Hasenpanier und stürzte über die Treppe hinunter, über die er von der Krypta in die Basilika hinaufgestiegen war. Unten bemerkte er, dass Bruckners Sarg mittlerweile orangerot blinkte und glühte vor Hitze. Weichbirner rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, zurück zur Frühstückspension, raffte seine Sachen zusammen, warf Geld auf den Tresen in der Rezeption und bestellte sich mitten in der Nacht ein Taxi, von dem er sich um einen fürstlichen Lohn direkt nach Hause fahren ließ. Mehrere Tage verschanzte er sich bei heruntergelassenen Rollos in seinen vier Wänden, ehe er sich wieder auf die Straße wagte. Immer, wenn ihn danach wieder einmal der Wunsch überkam, auf einer Kirchenorgel spielen, setzte er sich an seine Heimorgel und klimperte mit seinen beiden Zeigefingern den Flohwalzer, oft stundenlang.

Michael, 17. Jänner 2020.

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