Die ganze Hauptstadt lag in der fahlen Dunkelheit des Neumonds. Nur im obersten Stock eines barocken Palais in der Himmelpfortgasse in der Inneren Stadt brannte in einem Zimmer noch Licht. Von der Straße aus waren durch die Gardinen die Silouetten zweier Gestalten auszumachen. Bei der einen handelte es sich um den neuen jungen Finanzminister, der in dem eigens für ihn eingerichteten Unterrichtszimmer bienenfleißig die Grundrechnungsarten übte, deren Beherrschung ihm bei der Bewältigung seiner Aufgaben nicht zu unterschätzende Dienste leisten sollte. Seine Ministerkollegen hatten keine Kosten und Mühen gescheut, um ihm den Einstieg in die Bürde seines Amtes so leicht wie möglich zu gestalten. Sie hatten zum einen das Unterrichtszimmer mit Montessori-Material ausstatten lassen, damit der junge Kollege rasch nachhaltig ein Gefühl für Zahlen bekam. Zum anderen hatten sie die zweite am Fenster sichtbare Gestalt, eine strenge schwedische Gouvernante, Gudrun aus Göteborg, engagiert, die der Gedächtnisleistung des Ministers gegebenenfalls auch durch offiziell nicht ganz anerkannte Züchtigungsmethoden auf die Sprünge helfen sollte, falls derlei erforderlich wurde. Mit dem Addieren im Zahlenraum bis 100 klappte es schon recht gut, was den nächtlichen Anstrengungen der vergangenen Wochen nachträglich eine durchaus schöne Berechtigung verlieh. In jener Neumondnacht standen zum ersten Mal Subtraktionen auf dem Programm, was die grauen Zellen des Ministers, der wieder einmal rechnerisches Neuland betreten hatte, gehörig forderte. Während Gudrun aus Göteborg vor den Gardinen auf und ab schritt, die sie aus Schweden mitgebracht hatte, damit sie sich in der fremden Stadt heimisch fühlte, saß der Minister angestrengt vor seinen Rechenstöpselkarten und versuchte die Aufgaben zu lösen, die seine Gouvernante ihm gestellt hatte. Als einige Zeit später seine Ganglien so sehr glühten, dass er nicht mehr weiter kam, bat er Gudrun um eine kurze Unterbrechnung. Während der dann folgenden Kakaopause durfte der Minister das Unterrichtszimmer verlassen und sich draußen auf dem Gang die Beine vertreten. Er blickte hinunter in den stockfinsteren Innenhof des Palais und wurde plötzlich stutzig, als er unten die Lichtkegel zweier Taschenlampen bemerkte. „Rechen-Nanny!“, rief er aufgeregt. „Rechen-Nanny, dort unten ist jemand!“ Die Gouvernante, die sich diese Anrede selbst ausbedungen hatte, trat zu ihrem Schützling ans Fenster zum Innenhof und warf ebenfalls einen Blick in die Tiefe. „Wo denn?“, rief sie mit ihrer Bassstimme. „Ich sehe nichts.“ „Na, dort!“, beharrte der Minister und zeigte mit dem Finger auf die Stelle, an der er die Lichter bemerkt hatte. „Es sind zwei Männer!“, rief er aufgeregt. „Sie tragen Säcke weg, es sind Geldsäcke! Sie stehlen mein, äh, unser Geld!“ „Jetzt sehe ich es auch“, räumte Gudrun aus Göteborg ein und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Wir müssen aber jetzt weiterrechnen. Es wird schon seine Ordnung haben.“ „Nein!“, rief der Minister. „Es ist unser Geld! Wir müssen sofort nachsehen!“ „Also gut“, gab die Gouvernante schließlich nach, die wusste, dass ihr Schüler mit einer so großen Aufregung im Hintergrund ohnehin keine einzige Subtraktion bewältigen würde. Sie stellten ihre Kakaotassen zurück in die Teeküche und fuhren gemeinsam mit dem Lift ins Erdgeschoss. In der Dunkelheit schloss der Minister mit seinem Generalschlüssel die Tür zum Innenhof auf. Er trat, gefolgt von seiner Gouvernante, so leise wie möglich ins Freie und entdeckte neben einer schwachen Leuchte, die einen Notausgang markierte, einen LKW mit abgesenkter Ladebordwand. Er schnitt den beiden Männern, die weitere Säcke aus dem Hof heranschleppten, den Weg ab. „Halt!“, rief der Minister. „Was macht ihr hier?“ „Kannst du nicht lesen?“, brummte einer der beiden Männer missmutig, stellte seine Säcke ab und richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf die Seitenwand des LKW. „Wir machen unsere Arbeit.“ „Altpapier Achselhöhler“, las der Minister. „Raffinierte Tarnung! Ihr stehlt unser Geld!“ Da brachen beide Männer in schallendes Gelächter aus. „Kann man so sagen!“, sagte der eine, nachdem er sich wieder halbwegs gefangen hatte. „Ihr seid ertappt!“ rief der Minister. „Sehen wir nach, was in den Säcken ist“, schlug Gudrun aus Göteborg vor, die sich in der Zwischenzeit ebenfalls zu dem merkwürdigen Trio gesellt hatte. „Los, aufmachen!“, sagte der Minister zu den Männern und deutete auf einen der Säcke, die vor ihm standen. „Wenn es dir hilft“, sagte einer der Männer und schnitt mit einem Taschenfeitel, den er aus seiner Hosentasche fischte, die Plombe von dem Sack. Er zog die Öffnung auseinander und gewährte dem Minister und seiner Gouvernante einen Blick auf den Inhalt. „Wie ich es mir gedacht habe!“, rief der Minister triumphierend. „Lauter Banknoten! Aber wozu ihr sie geschreddert habt, bevor ihr sie stehlt, verstehe ich leider nicht.“ In diesem Augenblick wurde seiner Rechen-Nanny schmerzhaft bewusst, dass sie dem Minister neben den Grundrechnungsarten noch ganz andere Dinge beibringen würde müssen.
Michael, 8. Februar 2020