Prohibition 4.0

Heute regnete es den ganzen Tag wieder in Strömen, verbunden mit den üblichen starken Stürmen. Es hat 27 Grad am 06. Februar 2044. Es gibt in Österreich wie in vielen anderen Länder nur mehr drei Konzerne, die die gesamte Wirtschaft und das komplette Angebot bestimmen. Die Regierung setzt die Vorgaben entsprechend um und ist von der Finanzierung der Konzerne abhängig. Vor drei Jahren wurde ein allgemeines Lesevorbot unter dem Titel Prohibition 4.0 erlassen. Hintergrund waren nicht nur ein paar Klimawandelspinner, sondern auch eine kleine Gruppe, die sich immer noch dem Buch verschrieben und vor der Konglomeration der Macht in privaten Händen gewarnt hatte. Ihre Bücher waren im Eigenverlag erschienen, da der Medienkonzern Alphabet (einer dieser drei Konzerne neben Beta und Omega) diese Schriften kategorisch abgelehnt hatte und der Erfolg somit nur mäßig war. Alphabet wollte trotzdem auf Nummer sicher gehen und hatte per Diskret die Regierung angewiesen, ein allgemeines Lese- und Publikationsverbot zu erlassen, obwohl das sinnerfassende Lesen bereits um 2030 kein Massenphänomen mehr gewesen war. Das Verbot sorgte nicht einmal für besonderes Aufsehen. Der erste Samstag im Monat war für ihn doch etwas besonderes. Sie trafen sich um Mitternacht in einem kleinen Lokal, meist so um die fünfzehn Personen, Männer und Frauen, Junge und Alte. In diesem Lokal wurden genau zu diesem Zeitpunkt unter der Theke Bücher hervorgekramt und an den schummrigen Tischen saßen sie und lasen. Von außen war nichts zu erkennen und bisher hatten die Security-Einheiten, die zum Omega-Konzern gehörten, keinen Verdacht geschöpft. An einem Tisch saß eine pensionierte Lehrerin, die den Neuen das Lesen beibrachte. Während die Masse nur mehr bewegte Bilder von Alphabet konsumierte, herrschte in diesem kleinen Lokal Aufbruchsstimmung. Sie lasen die alten Klassikern von Handke und Jelinek, aber auch einen alten Bier-Blog, der nicht mehr öffentlich zugänglich war. Es war eine ruhige, angenehme Stimmung während draußen die Werbung von den riesengroßen Leinwänden in voller Lautstärke dröhnte. Viele Menschen lebten in einer Armut, sie hatten zwar genug zu essen (in schlechter Qualität), glaubten glücklich zu sein (in einem fremdbestimmten Zustand) und machten sogar Winterurlaub (mit einer 4D-Brille samt vermeintlichem Schnee). An den Tischen lächelten sie sich manchmal an, dann tauschten sich einige von ihnen wieder aus. Es war Reichtum, unvorstellbarer Reichtum. Plötzlich strömten rund zwanzig Vermummte in das Lokal, gelb maskiert, das Omega-Zeichen hinten groß angebracht. Eine Drohne hatte das Geschehen ausgemacht und dem Omega-Konzern den eindeutigen Beweis geliefert. Schwer bewaffnet stießen sie die Tische um und die Bücher flogen auf den Boden. Sie trampelten auf den Büchern herum während sie lauthals lachten. Dann mussten sich alle am Tresen entlang aufstellen. Der Schnellrichter mit dem kleinen Zusatz „judge“ auf dem Omega-Zeichen sprach sofort das Todesurteil. Es wurden die Folien und Leichensäcke ausgebreitet. Die Schergen setzten an und… Völlig schweißgebadet wachte er um 0.30 auf, griff zu seinem Mobiltelefon, es war der 06. Februar 2020. Zitternd rannte er ins Wohnzimmer, sah die Bücher stehen, wusste vom Reichtum. Ihm war klar geworden, dass der Weg vorgezeichnet sein könnte, aber noch sind 24 Jahre Zeit, die Geschichte umzuschreiben. Heute würde sich bereits der Literaturkreis treffen, Frauen und Männer, Alte und Junge und Neue jederzeit willkommen.

Harald, 8. Februar 2020

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