Der greise Schriftsteller H., der bei der internationalen skandinavischen Schreibtombola das große Los gezogen und den Hauptpreis gewonnen hatte, stieg nach seiner Rückkehr von der Preisverleihung in Stockholm an einem späten Dezemberabend im heimatlichen Bahnhof von Chaville, einem Vorort von Paris, erleichtert aus dem Nahverkehrszug. Man hatte, obwohl er sein Rasierzeug vergessen hatte und jedermann während seines Aufenthalts in Norwegen seine unentwegt juckenden Bartstoppeln sehen konnte, Nachsicht mit ihm geübt und ihm sowohl die Urkunde als auch einen Jutesack voller Bargeld überreicht und ihn eine Rede halten lassen. Dennoch war er froh, dass alles nun vorbei war und dass er in wenigen Minuten zu Hause sein würde, wo er sofort mit dem Geldzählen beginnen wollte. Den letzten Abschnitt seiner Reise gedachte er mit seinem Moped zurückzulegen, das er bei seiner Abreise an einem der überdachten Fahrradständer geparkt und sorgfältig mit einem Schloss an einer Metallstange angekettet hatte. Doch als H. an dem Stellplatz ankam, an dem er seinen fahrbaren Untersatz erwartete, war das Moped weg. Er schritt alle Fahrradständer ab und untersuchte auch Mauernischen, Parkplätze und Grünanlagen, aber es blieb dabei, dass sein Fahrzeug verschwunden war. Fluchend nahm H. seinen kleinen Rollkoffer in die eine Hand und die Dokumentenrolle mit der Urkunde und den Sack mit dem Bargeld in die andere und machte sich in der Dunkelheit zu Fuß auf den Weg. Weil das Geld und die Rolle so schwer waren, kam H. nur mühsam voran. Als er endlich zu Hause eintraf, fiel ihm sofort auf, dass das Gartentor offen stand. H. stellte seinen Rollkoffer am Zaun ab, nahm nur Geld und Urkunde mit und schlich vorsichtig in seinen Garten. Er hielt sich trotz der herrschenden Finsternis im Schutz der Büsche, um möglichen Einbrechern seine Anwesenheit nicht sofort zu verraten. Am Haus selbst schien alles ruhig, doch in seinem kleinen Weingarten bewegte sich etwas. H. hatte die Trauben auf Anraten eines Nachbarn im Oktober zur Erntezeit an den Reben belassen. Die Sorte, die in H.s Garten wuchs, liefere einen hervorragenden Eiswein, hatte der Nachbar gemeint, er würde gern beim Keltern im Winter behilflich sein. H. pirschte sich noch ein wenig näher heran und erkannte, dass eine schwarze vermummte Gestalt sich an seinen Rebstöcken herumtrieb und sich augenscheinlich große Mengen seiner gefrorenen Weintrauben durch einen Schlitz in der Kapuze in den Mund stopfte. H. war sich aufgrund der Proportionen und Konturen, die sich unter dem eng anliegenden Ganzkörperanzug abzeichneten, sicher, dass es eine Frau war, die unverschämt seine Trauben stahl. Er entschied sich für einen Überraschungsangriff, schnappte die Dokumentenrolle und rückte von hinten, so schnell er es vermochte, an seine nächtliche Besucherin heran. „Hab ich dich, elende Obstdiebin!“, rief er, während er der Frau die metallene Rolle auf den Kopf schlug. Doch anstatt sich geschlagen zugeben, leistete die Gestalt nach einer ersten Schrecksekunde Widerstand und ließ sich auf einen Ringkampf mit H. ein, im Verlauf dessen beide zu Boden stürzten, wo sie keuchend weiterkämpften. H. schlug weiterhin mit seiner Dokumentenrolle zu, was ihm aber keinen entscheidenden Vorteil verschaffte. Zu seiner Überraschung hatte die Frau plötzlich ebenfalls einen Gegenstand zur Hand, den sie ihm, H., ebenfalls mit Vehemenz mehrmals über den Schädel zog. Dan ging alles ganz schnell. In seiner Verzweiflung schaffte es H. genau in dem Augenblick, in dem er erkannte, dass seine Gegnerin auch mit einer Dokumentenrolle zuschlug, dass er ihr die Kapuze vom Kopf riss. „Elfriede!“, rief er entgeistert, als er die Obstdiebin zu erkennen glaubte. „Was um alles in der Welt treibst du nachts in meinem Garten?“ Es war tatsächlich Elfriede, die ebenfalls den Hauptpreis bei der großen skandinavischen Schreibtombola gewonnen hatte, allerdings ein paar Jahre vor H. „Ich habe auf dich gewartet, Peter“, sagte sie. „Ich wollte dir zu deinem Preis gratulieren. Als du nicht kamst, habe ich Hunger bekommen und von deinen köstlichen Weintrauben genascht.“ „Ich habe mich verspätet, weil mir mein Fahrzeug abhanden gekommen ist“, erklärte H. „Deswegen musste ich laufen.“ „Warum um Himmels Willen hast du dich maskiert?“, setzte er hinzu, während sie beide ihre Dokumentenrollen vom Boden aufhoben. „Ich wollte nicht, dass mich jemand erkennt“, erwiderte Elfriede. „Ich bin mit dem Zug gekommen und habe ich mich auf der Fahrt auf der Toilette versteckt. Am Bahnhof habe ich ein Moped gestohlen und bin so schnell wie möglich hierher gefahren.“ „Das Moped“, rief H. entgeistert. „Wo ist es?“ „Es liegt hinter dem Komposthaufen“, erwiderte Elfriede. H. sah sofort nach und erkannte sein Moped. Vor lauter Glück küsste er Elfriede auf die Wange. Nachdem die Aufregung sich gelegt hatte, bat H. seine Besucherin in sein Haus. Gemeinsam richteten sie sich ein paar Wurstbrote her, und verglichen stolz ihre Urkunden, die sie dazu aus den Dokumentenrollen holten. Schließlich zählten sie mit großem Vergnügen H.s Preisgeld, das er aus dem Jutesack einfach auf den Küchentisch kippte. Den Rest des Abends verbrachten sie damit, dass sie einander gleichzeitig gegenseitig aus ihren neuesten Werken vorlasen, wobei keiner dem anderen zuhörte, was sie aber beide nicht im Geringsten kränkte, weil sie ihre Urkunden und ihr Geld ja schon bekommen hatten.
Michael, 14. Februar 2020.