Faschingsnacht

Hektor war noch immer in der Therapie, einmal wöchentlich, auf ausdrücklichen Wunsch seiner Frau. Er beteuerte, dass bereits die erste Sitzung von Erfolg gekrönt gewesen sei und eine weitere nächtliche Umräum- oder Ausmalaktion nicht mehr vorkommen würde. Nichtsdestotrotz waren sich die Therapeutin und seine Frau einig, dass zumindest zehn Sitzungen notwendig seien, um einen Rückfall gänzlich ausschliessen zu können. Die Therapeutin wurde seiner Frau von einer guten Freundin empfohlen und hatte nach anfänglichem Widerwillen auch Hektor überzeugen können. Beim letzten Mal hatten sie vereinbart (vielmehr hatte Hektor gedrängt), dass doch bei der nächsten Sitzung am Faschingssamstag um 15.00 Uhr eine Verkleidung angebracht wäre. Um 11.00 Uhr war Hektors Frau am Samstag bereits mit ihren Freundinnen aufgebrochen, um fünf Wellness-Tage im Salzburger Hof zu verbringen und diesem nun wirklich dämlichen bzw. proletarischen Faschingstrubel zu entkommen. So konnte Hektor bereits kurz nach dem Mittagessen mit seiner Verkleidung beginnen. Er zog ein zerfetztes, weißes Hemd an. Auf der linken Schulter hatte er zuvor einen zehn Zentimeter großen, bunten Papagei angenäht. Er brachte an einer kleinen Stelle im Gesicht Kollodium auf, das die Haut entsprechend vertieft wirken ließt und auf dem er danach mit Braun-, Rot- und Violetttönen eine entsprechende Wunde anfertigen konnte. Ein Piratentuch am Kopf und eine braune Lederhose machten die Verkleidung nahezu perfekt. Als er das Haus verließ, zog er noch einen weiten Mantel mit vielen Knöpfen an. Wohlgemut machte er sich auf dem Weg zur Therapeutin, diesmal mit öffentlichen Verkehrsmittel, um die Spießerblicke zu genießen. Selbst außerhalb ihrer Arbeitszeit wirkte das arbeitende Volk auf ihn zombiehaft. Im Bus stellte er sich vor, wie viel Mühe sich die Zombies gegeben haben, um so auszusehen. Nur ganz kurz hatte er das Gefühl, dass diese Gedanken doch gemein wären. Nach vier Stationen war er angekommen und nach weiteren fünf Gehminuten läutete er bei der Therapeutin. Er sah durch die Glastür einen Rock im Anflug. Eine Piratenbraut öffnete ihm die Tür und er musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass es sich um die Therapeutin handelte. Sie begannen die Therapie mit den üblichen Zeichnungen und Interpretationen. Er malte zur Abwechslung ein Schiff, schließlich passte das zu den Kostümen. In seinem Übermut duzte er Eva und forderte sie auf, selbst ein Bild anzufertigen. Frau Dr. Novis war kurz irritiert, spielte aber mit. Sie malte eine Pirateninsel mit einem hübschen Piratenpaar. Sie unterhielten sich über die Bilder und Interpretationen. Die Stunde war vorbei und Eva konnte von Hektor überredet werden, noch eine Flasche Wein zu öffnen. Hektor gefiel die Therapie mittlerweile richtig gut. Sie unterhielten sich und befanden, dass sie in der Kostümierung fast ein wenig wie Käpt’n Jack Sparrow und Angelica im vierten Teil der Fluch der Karibik wirkten. Hektor schlug nach Leerung der Flasche Wein vor, sich auf dem Weg in die Innenstadt zu machen, da ein Piratenpaar am Faschingsdienstag sicher noch beim angesagten Wildgschnas fehlen würde. Eva, die sonst kaum Alkohol konsumiert, willigte schnell ein. Es war erst 18.15 und Eintritt laut Ankündigung um 19.00 Uhr. So beschlossen sie, zur Stärkung zwei Stelzen zu essen. So etwas macht durstig und zwei naturtrübe Bier konnten Abhilfe schaffen. Eva und Hektor waren bereits erkennbar angeheitert, als sie beim Gschnas um 19.30 Uhr eintrafen. Sie aßen zwei Faschingskrapfen und gönnten sich nun zwei Sekt-Orange. Anschließend tanzten sie und hatten mächtig viel Spaß. Immer wieder berührten sie sich und weitere zwei Cocktails lockerten die Stimmung zusehends. Als kurz vor MItternacht „He’s a Pirate“ aus den Lautsprechern zu Ehren des Piratenpaars erklang, küssten sie sich intensiv. Hektor meinte, dass er Eva nun entführen werde, er hätte zuhause eine richtige Piratenhöhle. Um 1.30 Uhr kamen sie an der Villa an und eng umschlungen schlenderten sie Richtung Schlafzimmer. Als Eva im Schlafzimmer meinte, dass ein zarter Orangeton so gar nicht ginge, befürchtete Hektor bereits zurecht Schlimmes. Keine fünf Minuten später standen beide mit Farbe bewaffnet im Schlafzimmer und verwandelten das Orange in ein Grau. Eva war nun richtig in Fahrt und es musste noch ein Piratenschiff gemalt werden. Hektor musste mal wieder aufgrund des Geruchs auf den Salon ausweichen. Er konnte aber dort mit Eva schnell zur Sache kommen, wobei die Position insofern etwas ungünstig war, als doch er auf den wirklich nicht schönen Kristall-Kronleuchter sehen musste, was aber seinen Höhepunkt nicht verhinderte. Zufrieden schliefen Hektor und Eva am Khayam-Teppich ein. Am Morgen verließ Eva, die Piratin, die Villa nach einem doppelten Espresso gegen MIttag mit einer getrockneten Rose, die vom Valentinstag übrig geblieben war. Hektor war klar, dass er auch diesmal keine vernünftige Erklärung für seine Frau parat haben würde. Es kam wie es kommen musste. Er ging nun zweimal in der Woche zu Frau Dr. Novis, wobei eine Stunde in jeder Woche zu einem sehr befriedigenden Abschluss kam, wofür ihn seine Frau nach dem Heimkommen auch immer sehr lobte, da sie schon erste Zeichen für eine Besserung zu sehen glaubte.

Harald, 22. Februar 2020

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