Es war 21.55 Uhr und Wälzer begann wie üblich wie von Sinnen zu tippen. Er hämmerte die Zeilen in seinen kleinen Laptop und sprühte vor Ideen. Diesmal war sich Wälzer wieder sicher, dass Leser, den er persönlich nicht kannte, begeistert sein und ihm das Werk aus den Händen reißen würde. Monatelang tüftelte Wälzer an seinem Manuskript bis er in einer Märznacht aus seiner Sicht die Perfektion erreichte. Wälzer war überzeugt, das Buch wäre für Leser bereit. Nach kurzer Zeit hielt er es druckfrisch in Händen und Leser könnte es nun jederzeit bei ihm bestellen. Er rührte ein wenig die Werbetrommel, nutzte Social-Media-Kanäle und wartete hoffnungsvoll. Nach einigen Tagen machte er sich doch leichte Sorgen. Leser hatte weder bestellt noch von sich hören lassen. Bereits beim letzten Mal war Leser eher schon schwach und so machte sich Wälzer große Sorgen. Er hätte Leser gerne persönlich kontaktiert, hatte aber weder Telefonnummer noch E-Mail-Adresse, geschweige denn eine Postadresse. Nach drei Wochen bangen Wartens war Wälzer klar, dass etwas nicht stimmte. Leser mochte jetzt vielleicht fasten, doch nicht geistig. Wälzer machte sich auf den Weg, um Leser ausfindig zu machen. Er reiste immer nächtens mit dem Zug, mit dem Bus, tagsüber ging er zu Fuß, nahm das Fahrrad. Keine Spur von Leser, ganz Europa abgereist. Schöne Städte, spannende Geschichten, wilde Nächte, doch kein Leser. Es half nichts, er suchte außerhalb Europas weiter. Als er aufgeben wollte und davon ausging, dass Leser gestorben sei, hörte er nächtens in einer Bar in Mosambik, dass Leser anscheinend auf den Seychellen wäre und dort nach dem Schatz von Labuse suchte. Das passte zum phantasievollen Leser. Und tatsächlich fand er nach kurzer Zeit Leser auf einem Segelboot vor der Insel Moyenne. Er hatte den Schatz von Labuse – es handelte sich um mehrere hundert Bücher und ein wenig Gold – gefunden. Wälzer wollte ihn sofort zur Rede stellen, warum er sich den nicht meldete und sich sang- und klanglos aus dem Staub machte. Da bemerkte er, dass Leser nicht allein war. Mit an Bord war eine pfiffige Pariserin und es stellte sich, wie Wälzer am kindlichen Geschrei bemerken konnte, bereits Nachwuchs ein. Leser hatte sich also wieder vermehrt. Dass nährte beim 79-jährigen Wälzer die Hoffnung, dass auch er mit seiner 19-jährigen Freundin noch mal durchstarten konnte. Zuhause angekommen machte sich Wälzer über Freundin und neues Werk her. Schließlich musste Leser, der nun wieder eine größere Familie hatte, versorgt werden. In den nächsten Monaten überschlugen sich die Ereignisse. Viele machten es Leser und Wälzer nach und so entstand nach kurzer Zeit eine Art Großfamilie. Der Trend verbreitete sich dann weltweit rasend schnell und es kam zu einer großen Renaissance der schriftlichen Werke. Nach einem weiteren Jahr schrieb die Readers Murphy Gang aus diesem Grund ihren bekannten Hit um: „Draußen vor der großen Stadt stehen die Filmemacher sich die Füße platt, Skandal im Lesezirkel, Skandal im Lesezirkel, Skandal um Wälzer.“
Harald, 28. Februar 2020.