Nachtcafé

Punkt 21.00 Uhr öffnet das Nachtcafé. Tagsüber ist es kaum zu bemerken, in einer Nebenstraße, keine Einkaufsmöglichkeiten am Tag, unscheinbar mit einer angebrachten, alten Tafel „Café Mitternacht“. Doch in der Nacht kommen sie alle, freuen sich auf 21.00 Uhr, um Heimat bis 04.00 Uhr zu finden. Der Dichter ist meist der Erste, wartet kurz davor schon sehnsüchtig vor der Tür. Liest vor, auch wenn noch keiner da ist, die Inhaberin hört zu. Einige Obdachlose betreten das Café „Mitternacht“ kurz danach, verbrauchen die wenigen erbettelten oder von der Sozialhilfe noch übrigen Euro sinnvoll. Meist so um 23.00 Uhr wärmt sich regelmäßig die noch junge Prostituierte mit dem Künstlernamen „Yvonne“ auf, um in der zweiten Hälfte der Nacht wieder auf Kundenanfang zu gehen. Dass einer der Cafébesucher im hinteren Bereich sie immer genau beobachtet, wohl eher sogar anstarrt, ist ihr klar und sie lächelt wissend in seine Richtung, um auch einem Gestrandetem Freude zu schenken. Wirklich spannend wird es um 23.30, wenn Andreas das Café betritt. Andreas genießt hier Anerkennung, nicht weil er unbedingt einer von ihnen wäre, sondern weil er auch tagsüber überaus erfolgreich ist und trotzdem kommt. Weil er weiß, er könnte einer von ihnen sein, es war nur Glück, der Erfolg am Tag. Kein Fleiß, kein Streben nach Mehr, keine besondere Begabung, einfach nur Glück, dass eher einfallslose Menschen die von ihm entwickelte Lauf-App millionenfach downloadeten und er in Folge das Unternehmen um einen imposanten Betrag an ein Sportunternehmen verkaufen konnte. Dass er auch manchmal im Fernsehen auftritt, macht ihn im Café „Mitternacht“ zum interessanten Gesprächspartner, nicht zum Star, er hört auch Wahrheiten, wenn was nicht gut lief, ehrliches Feedback, anders als am Tag, ohne Berechnung. Diesmal stieß er beim Betreten direkt mit „Yvonne“ zusammen und er hat sie spontan auf einen Espresso eingeladen. Sie sitzen am Tisch und sprechen über ihre jeweilige Arbeit. Andreas fühlt sich schon länger zu „Yvonne“ hingezogen, trotz ihrer Tätigkeit. Wenn „Yvonne“ über Männer spricht, ist nichts Verachtendes zu hören, manchmal gar Mitleid. Sie wollte früher eine kleine Boutique betreiben, ist gescheitert, hat noch Schulden. „Yvonne“ muss jetzt gehen, Andreas überredet sie zu bleiben, will die Stunden bezahlen. Es entwickelt sich schnell Vertrauen, Andreas interessiert sich für Eva Neubauer, nicht für das Künstler-Ich „Yvonne“. Eva hat sonst nie jemandem ihren vollen Namen genannt. Kurz vor vier Uhr verlassen beide das Café. Kurt hat ihr 700 Euro gegeben, „Yvonne“ will sich erkenntlich zeigen, Andreas will nur das Danke von Eva. Nach wochenlangen regelmäßigen Treffen hat Eva nun eine Boutique. Andreas machte es möglich, kümmert sich um den Businessplan, das Marketing und den Einkauf. Eva erledigt den Rest erfolgreich. Glück stellt sich ein. Den Neidern wird die Vergangenheit nicht verschwiegen, Offenheit und dabei lächeln ist das Erfolgsrezept. Manch früherer Nachtkunde kommt jetzt tagsüber zu ihr, lässt sich beraten, um der Ehegattin das passende Geschenk zu machen. Ist die Ehegattin dabei, wird der Gatte professionell wie ein Fremder begrüßt. Andreas genießt Eva an seiner Seite, einige sogenannte Freunde hat er verabschiedet, wissen nicht, was sich ziert. Alle anderen akzeptieren die Vergangenheit, lieben auch die Geschichten von Eva aus der Zeit der „Yvonne“, mögen das ungewöhnliche Paar. Die Boutique floriert, es wird Café getrunken und eingekauft. Fast könnte jemand meinen, dass die beiden es geschafft haben, den Tag zur Nacht zu machen. Und einmal in der Woche betreten sie gemeinsam um 23.30 Uhr das Café „Mitternacht“, das Café der unbegrenzten Möglichkeiten.

Harald, 6. März 2020

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