Die Redaktion

Es war 20.45 und die Zeitung würde in genau in 150 Minuten in Druck gehen. Diese Ausgabe war einfach inhaltsleer, keine Schlagzeilen, keine Besonderheiten, keine Aufregungen. Schimmer, der die Seite 5 verantwortete, hatte keine Idee. Ausgerechnet jetzt, wo er mit jeder noch so kleinen Sache für eine Sensation sorgen könnte. So verließ er die Redaktion in Richtung seines Lieblingslokals. Schließlich konnte doch kein Mensch in diesem kleinen Büro nur eine vernünftige Idee haben. Den ersten Kir Royal nahm er in einem Schluck, das zweite Glas wurde sofort bereit gestellt. Schimmer hatte noch immer keine Ahnung, was der Aufmacher sein sollte. Beim dritten Kir Royal gesellte sich eine Frau zu ihm, dessen Name er bereits nach einem weiteren Schluck wieder vergessen hatte. Er spendierte ihr trotzdem einen Kir Royal und genehmigte sich selbst einen weiteren. Dieses Spiel wiederholte sich noch dreimal. Nach einer halben Stunden fuhren sie gemeinsam zurück in die Redaktion. Schimmer, der nun deutlich Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten, wackelte gemeinsam mit der Frau ohne Namen in sein Büro. Ohne das er sie aufgefordert hatte, entblößte sie ihren Oberkörper zur Gänze. Schimmer nahm seine Kamera und drückte ab. Sie schüttelte ihr Haar und lächelte. Schimmer war begeistert, die Frau ohne Namen wollte mehr. Schimmer hatte aber nun keine Zeit und beförderte sie relativ unsanft zum Ausgang. Er rief ihr noch nach, dass sie ab morgen ein Star sein würde. Schimmer hatte ein Foto für Seite 5 und textete noch. Das Werk gab er nun weiter, um rechtzeitig in Druck gehen zu können. Dann fuhr er nach Hause und schlief seinen Rausch aus. Vor 10.30 Uhr war er nie in der Redaktion und sein Morgenschlaf war ihm heilig. Bereits um 07.30 klingelte das Telefon, zweimal knallte er den Hörer auf den Apparat. Beim dritten Mal schrie er, wer ihn den zur Hölle stören würde. Es war der Chefredakteur, der ihm kurzatmig erklärte, dass er entlassen sei. Er würde völlig spinnen, den Verstand verloren haben, vom Wahnsinn zerfressen sein. Schimmer wusste gar nicht mehr, was er eigentlich auf Seite 5 geschrieben hatte. Um 08.30 ging er noch immer müde und angeschlagen zum Kiosk, um sich die neueste Ausgabe zu besorgen. Es war schon großer Aufruhr am Kiosk zu sehen und so blätterte er sofort auf Seite 5. Dort traute er seinen Augen nicht. Eine durchaus hübsche Frau, die oben ohne mit wehendem Haar in die Kamera lächelte. So etwas hat es noch nie gegeben. Darunter befand sich ein kurzer Bericht, dass die Schöne studieren würde und zurzeit solo sei. Wer sie gerne kennenlernen möchte, sollte abends sein Lieblingslokal aufsuchen und die Frau, die Schimmer als Sabine bezeichnete, auf einen Kir Royal einladen, anscheinend ihr Lieblingsgetränk. Um 09.00 Uhr meldete sich Sabine, die über ihre neue Berühmtheit gar nicht traurig war. Die Ausgabe selbst war um 09.30 Uhr vergriffen und der Chefredakteur entschuldigte sich um 10.15 und stellte ihn mit einer Verdoppelung seines Gehalts wieder ein. Die Seite 5 mit dem Oben-Ohne-Foto war seit diesem Zeitpunkt fixer Bestandteil der Zeitung. Schimmer heirate zwei Wochen später Sabine, die Frau ohne Namen. Schimmer war nach mehrmaliger Intervention von Sabine bei seinem Chefredakteur für Seite 2 zuständig, ein deutlicher Aufstieg, was aber Schimmer keineswegs so empfand, aber zähneknirschend zur Kenntnis nahm.

Harald, 13. März 2020.

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