Auferstehung

Es war 1989 und er war siebzehn Jahre alt. Der Glaube an einen Osterhasen war natürlich bereits seit Jahren erloschen. Mit zehn Jahren freute er sich noch über sein neues Fahrrad und war sich ganz sicher, dass er den Osterhasen auch gesehen hatte. Und jetzt nur mehr Verwirrung und latente Unzufriedenheit. Dürfte er nicht alles vom Leben erwarten? Wobei die Wortsilbe „warten“ auch schon wieder sein Empfinden nur unzureichend wieder geben konnte. Er wollte ja alles und das sofort, vom Warten keine Spur. Mit dem Queen-Song „I want it all (and I want it now)“ durch die Welt ziehen, alles sehen, alles genießen, keine bürgerliche Bescheidenheit, die ihm immer fremd war. Er war sich sicher, dass er die Ansprüche stellen dürfe, schließlich würde er bestimmen, was das Leben herzugeben hätte. Und wenn das Leben so nicht spielte, dann kann das doch nur ein Fehler sein, aber sicher nicht seiner. Am Karsamstag zog er mit seinen Freunden los und besuchte eine Veranstaltung der Landjugend. Widerwillig startete er um 21.05 Uhr sein Moped, da seine Freunde nicht locker ließen und das obwohl ihm die Landjugend von Kindesbeinen an suspekt war. Er hasste diese Tradition, diese falschen Moralvorstellungen, diese Tracht, diese Töchter von gut situierten Häusern, diese notgeilen Väter, die auch bei gewissen Veranstaltungen waren, dieses sinnlosen Besäufnisse, um sich nachher mit einem Mädchen unterhalten zu können, wobei hierbei kaum mehr von Unterhaltung die Rede sein konnte, eher ein Anhalten, ein Nicht-Umfallen. Er konnte das alles ohne Alkohol, hatte Mut, konnte mehrere zusammenhängende Sätze auch im Beisein von Mädchen formulieren. Und was brachte es ihm? Nichts, genau nichts. Allein als sie hineinkamen, standen sie schon vorne an der Bar. Susi hatte schon jetzt zu viel Cola Rum getrunken, Andrea war mit ihrem Dauerfreund hier, den sie noch immer vor ihren Eltern versteckte und Beatrice suchte wieder ihren Traummann für dieses Wochenende, wobei sich der Geschmack von Woche zu Woche doch massiv zu ändern schien. Er hätte auch gleich wieder umdrehen können, aber seine Freunde waren bester Laune und sie tranken das erste Bier. Während sich alle zu amüsieren schienen, stand er mit traurigen Augen an der Bar. So wollte er auch stehen bleiben, bis 02.00 Uhr früh, maximal einmal aufs Klo gehen. Fast alle Mädchen hatten Tracht, selbst viele Burschen trugen sie, wobei er und seine Freunde eine glorreiche Ausnahme war und die Gartenzwergmentalität dahinter etwas erahnten. Fast drei Stunden ging das so und er schlürfte an seinem zweiten Bier, das ebenfalls schon wieder Zimmertemperatur erreicht hatte. Plötzlich wurde es still und er befürchtete zurecht das Schlimmste. Auf vielfachen Wunsch spielte der Amateur-DJ „Everlasting Love“ von Sandra, nicht wie er es bevorzugte „Maria Magdalena“. Als er fast schon Tränen – diesmal vor Wut – in den Augen hatte, hörte er: „Du schaust so wunderschön traurig, Liebeskummer oder?“. Er drehte sich zur Seite und sah sie. Ein Mädchen, blond, lange Haare, vielleicht ein Jahr älter als er, coole, schwarze Lederjacke, große silberne Knöpfe, buntes T-Shirt, enge Jeanshose. „Nein. Kein Liebeskummer, eher Liederkummer.“, antwortete er mit offensichtlich interessiertem Blick. „Ich heiße Nicole. Kann das verstehen, wobei… lass uns tanzen.“, meinte sie, als sie ihn bereits auf die Tanzfläche zog. Seine Augen änderten sich innerhalb von Minuten und er hatte nur mehr Augen für Nicole, bewusst traurig, schließlich schien sie das zu mögen. Seine Freunde bemerkten das schnell und hatten allerhand Kommentare für ihn bereit, wobei ihn das in seiner Welt nicht mehr interessierte. Abschätzige Blicke der weiblichen Trachtenfront genoss er, als er mit Nicole abrockte. Sie tranken Cola, erzählten sich viel und beschlossen um 02.30 zu ihm nach Hause zu fahren. Als sie ihn in seinem Zimmer anlächelte und ihre Jacke gekonnt in die Ecke schoss, war es völlig um ihn geschehen. Es folgte ihr T-Shirt, sein T-Shirt und die jeweiligen Hosen. Es war so aufregend, wie noch nie zuvor. Auch wenn das eine oder andere Mal eine kleine Ungeschicklichkeit folgte, war es für Beide unglaublich, berauschend, einmalig, „everlasting love“. Diese Osternacht veränderte seine Einstellung zur Gänze. Was hatte er vom Leben zu erwarten? Nichts, gar nichts durfte er erwarten. Die Osternacht hatte es ihm klar vor Augen geführt. Alles was er ab jetzt bekommen würde, wäre ein Geschenk. Nach Nicole folgten noch viele Geschenke des Lebens an ihn, jedes Mal erfüllte ihn ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit. Auch das ist Ostern, auch das ist Auferstehung. Und manchmal, ja manchmal will er immer noch Alles und das jetzt.

Harald, 10. April 2020.

4 Kommentare zu „Auferstehung

  1. Wahrlich ein vorausschauendes Osterfest.
    Ostersonntag 1989: 26. März
    I Want It All: Erscheinungstermin: 2. Mai 1989
    Aber die Geschichte ist trotzdem sehr gelungen!

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