Pirelli

Die Schwester Maria Annunciata, eine Nonne aus dem Orden der Servitinnen, hatte gegen Mittag als letzte verbliebene Insassin ihr Kloster in San Salvo an der italienischen Adriaküste verlassen und ihre Zelte dort für immer abgebrochen. Ihre Mitschwestern waren im Lauf der Jahre entweder verstorben oder hatten sich aus unterschiedlichen Gründen für ein weltlicheres Leben entschieden, sodass Maria Annunciata sich zu ihrem Schritt gezwungen sah, als sie zum Schluss allein übriggeblieben war. Ihr Ziel war das Stammhaus ihres Ordens in Sant’Iona in den Abruzzen im Landesinneren. Sie hatte sich dort für den späten Abend telefonisch angekündigt, ihre bescheidene Habe zu einem Bündel geschnürt und auf dem Dach ihres Fiat Cinquecento fixiert und war mit schwerem Herzen gemächlich losgefahren. Weil sie nur wenig Praxis als Fahrzeuglenkerin besaß, traf sie erst in der beginnenden Abenddämmerung in Pescasseroli ein, wo sie noch einmal tankte und eine Pause machte, ehe sie wieder aufbrach, ins Valle Chiara in Richtung Norden. Zu ihrer Rechten erkannte sie noch den Monte Palombo und auf der linken Seite die schemenhaften Umrisse des Monte di Valle, ehe endgültig die Dunkelheit hereinbrach. Auf der Passstraße bemerkte Maria Annunciata, wie sehr ihr die Übung fehlte. Sie riss das Lenkrad ihres kleinen Fiat mehrmals erst im letzten Augenblick herum und schaffte es nur mit Mühe, die Spur zu halten. Die bewaldete Gegend, durch die sie fuhr, war einsam und frei von jeglicher menschlichen Besiedlung. Als die Nonne plötzlich realisierte, dass der Übergang, auf sie gerade zufuhr, ausgerechnet Passo del Diavolo hieß, wankte sie ein wenig in ihrem Glauben und wurde prompt von einem Bären überrascht, der an einer kleinen Brücke aus dem Nichts vor ihr auf der Fahrbahn auftauchte. Sie versuchte auszuweichen und geriet dabei mit dem rechten Vorderrad so unglücklich auf einen scharfkantigen Begrenzungsstein am Brückengeländer, dass der Reifen platzte. Maria Annunciata schaffte es wie durch ein Wunder, ihren Cinquecento ohne weitere Schäden zum Stillstand zu bringen. Der Bär, der sich genauso wie die Schwester erschrocken hatte, trollte sich ebenfalls unverletzt ins Unterholz neben der Straße. Maria Annunciata wartete noch ein paar Minuten, ehe sie ausstieg, um den Schaden am Vorderrad zu begutachten. Sie leuchtete mit ihrer Taschenlampe an die betroffene Stelle und sah, dass für sie wohl nichts mehr zu machen war, da ihr kleiner Wagen zwar mit einem Reserverad ausgestattet war, Maria Annunciata jedoch keine Ahnung davon hatte, wie man einen Reifenwechsel berwerkstelligte. Sie hoffte, dass bald jemand vorbeikam, den sie anhalten und um Hilfe bitten konnte. Sie rechnete in der gottverlassenen Gegend, in der sie sich befand, durchaus mit einer längeren Wartezeit. Allerdings erhielt sie weit früher bereits wieder Gesellschaft, als ihr womöglich lieb war. Hinter sich hörte sie plötzlich Geräusche. Als sie sich umdrehte, wurde sie von dem hellsten Licht geblendet, dass ihr jemals begegnet war. „Fürchte dich nicht“, sagte eine sanfte und zugleich wohltönende Stimme. Durch die Schlitze ihrer zusammengekniffenen Augen nahm Maria Anunniciata einen weiß gewandeten Jüngling von überirdischer Schönheit und mit langem gewelltem blondem Haar wahr, aus dessen Schultern ein goldenes Flügelpaar ragte. „Oh, je“, dachte die Nonne insgeheim. „Hoffentlich verkündet er jetzt nicht, dass ich in freudiger Erwartung bin und einen Erlöser oder Propheten gebären werde!“ Sie nahm sich zusammen und richtete das Wort an den Fremden. „Ich fürchte mich nicht“, erwiderte sie, „aber du bist so hell, dass du mit deiner Helligkeit das Flutlicht im Stadio San Siro ersetzen könntest.“ „Oh“, sagte der Fremde und stutzte. „Verzeih, ich habe das Fernlicht eingeschaltet.“ Er drückte auf seine Brust und strahlte augenblicklich weit weniger intensiv. „Das Abblendlicht“, sagte der Fremde. „Besser?“ „Besser“, erwiderte Maria Annunciata. „Aber immer noch zu hell.“ Der Unbekannte drückte noch einmal und erstrahlte nun in einer Lichtstärke, die auch für die Nonne angenehm war. „Das ist mein Standlicht“, erklärte der Fremde. „Endlich haben wir das Richtige gefunden.“ Er lächelte hundvoll und betrachtete Maria Annunciata genauer. „Du komnmst zu rechten Zeit“, sagte die Nonne und wies auf das lädierte Rad an ihrem Cinquecento. „Dich schickt der Himmel.“ „Nicht direkt“, erwiderte der Fremde. „Ich habe gerade in dem Bachbett unter der Brücke ein kleines Nickerchen gehalten, weil ich im Augenblick eigentlich nicht im Dienst bin. Mein Chef hat mich nämlich hierher zum Passo del Diavolo geschickt, auf eine Bildungsreise zur Konkurrenz gewissermaßen. Ich habe dein Kommen bemerkt und dein kleines Missgeschick mit dem Bären beobachtet.“ „Hättest du es nicht verhindern können?“, fragte die Nonne. In dem Augenblick, in dem sie es ausgesprochen hatte, tat es ihr schon leid. „Wie schon gesagt“, erwiderte der Fremde, „ich bin im Augenblick nicht im Dienst. Ich werde dir aber helfen und dein Rad wechseln. Der Cinquecento hat doch ein Reserverad, oder?“ Maria Annunciata nickte und wies auf den Kofferraum an der Stirnseite ihres Fahrzeugs. Der Fremde schnallte seine goldenen Flügel ab und legte sie sorgfältig aufs Bankett. Er schob die Ärmel seines weißen Gewandes hoch und spuckte sich in die Hände. Die Nonne, die sich etwas Überirdischeres erwartet hätte, zog die Handbremse an und entriegelte die Haube, die der Fremde gleich öffnete. Er löste das Reserverad aus der Arretierung und hob es heraus. Wagenheber und Radkreuz folgten. Er nahm die Zierkappe ab und legte sie zu seinen Flügeln. Dann setzte er das Radkreuz an und versuchte die Muttern zu lockern, die sich zum Erstaunen des muskulösen Fremden, so sehr er sich auch abmühte, keinen Millimeter bewegten. „Wer zum Teufel hat dieses Rad montiert?“, entfuhr es ihm, während er schon ein wenig ins Schwitzen geriet. „Das war Luigi Mucchi von der Garage in San Salvo“, sagte Maria Annunciata. „Er wartet diesen Wagen schon seit vielen Jahren.“ „Wie dem auch sei“, sagte der Fremde und versuchte es noch einmal, wieder vergeblich. „Er hat jedenfalls Bärenkräfte.“ Auf dieses Stichwort hin erhob sich im Unterholz, in dem der Bär vorhin verschwunden war, ein Unheil verheißendes Gebrumm. „Ich glaube, da will sich jemand balgen“, sagte der Fremde zu Maria Annunciata. „Warte einen Augenblick. Ich bin gleich zurück.“ Er sprang ins Unterholz, um das Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben. Mit bangem Herzen vernahm die Nonne die grimmigen akustischen Drohgebärden des Bären und die nicht minder martialischen Antwortlaute des Fremden. Augenblicke später raschelten Blätter und es knackten Äste. Schließlich folgten wilde Kampfgeräusche, die auf den intensiven Einsatz von Tatzen und Fäusten schließen ließen. Nach einer Weile tauchte der Fremde lächelnd wieder aus dem Unterholz auf. „Es gibt keinen Bären“, sagte er zufrieden, „den man nicht mit ein paar Ohrfeigen einen freundlichen Umgang lehren könnte.“ Sein herrliches weißes Gewand war so zerrissen und verschmutzt, dass der Fremde es kurzerhand über seinen Kopf zog und danach in langen baumwollenen Unterhosen dastand. Maria Annunciata, die zum ersten Mal einen so wohlgeformten männlichen Oberkörper nackt aus der Nähe sah, verschlug es die Sprache. Die mächtigen Bizepse und Trizepse, sowie die bemerkenswerte Brustmuskulatur und der stählern anmutende Sixpack suchten ihresgleichen. Der Fremde packte wieder das Radkreuz, setzte es mit grimmigem Blick abermals an, sprang mit Wucht auf das metallene Werkzeug und bezwang mit diesem Kraftakt endlich die Widerstandskraft der ersten Mutter. Mit den anderen Muttern verfuhr er genauso, setzte danach den Wagenheber an und kurbelte den Cinquecento in die Höhe. Dann drehte er die Schrauben vollständig heraus und nahm das defekte Rad ab. Er steckte das Ersatzrad auf, setzte die Schrauben wieder ein und zog sie leicht an. Schließlich senkte er den Wagen wieder ab, bis das Rad wieder blockierte und zog die Muttern fest. Am Ende verstaute er das ramponierte Originalrad und das Werkzeug im Kofferraum des Cinquecento. „Fertig“, sagte er zu Maria Annunciata, deren Blick immer noch wie hypnotisiert an seinem Oberkörper hing. Als er die Haube zuklappte, fand sie endlich ihre Sprache wieder. „Ich stehe tief in deiner Schuld“, sagte sie, während der Fremde sein zerschlissenes Gewand wieder überstreifte. „Wenn du mir deinen Namen sagst, dann kann ich für dich beten.“ Nachdem der Fremde die Zierkappe aufgesteckt und sich seine Flügel wieder umgeschnallt hatte, kam er dem Wunsch der Nonne nach. „Ich bin der Erzengel Pirelli“, sagte er, während er seitlich seine Arme hob. „Nichts zu danken. Ich habe es gern getan, auch wenn ich gerade nicht im Dienst war. Leb Wohl!“ Er drückte zweimal auf seine Brust und erstrahlte augenblicklich wieder in der gleißenden Kraft seines Fernlichts. Maria Annunciata war so geblendet, dass sie ihre Augen schloss, um nicht zu erblinden. Als sie sie ein paar Minuten später vorsichtig wieder öffnete, war der Fremde verschwunden. Die Nonne suchte die nähere Umgebung ab und sah auch unter der Brücke in dem Bachbett nach, konnte aber keine Spur mehr von ihrem Retter entdecken. Schließlich stieg sie dankbar und mit leichtem Herzen in ihren Cinquecento und setzte hoch konzentriert ihre Fahrt nach Sant’Iona fort, wo sie ohne weitere Vorkommnisse kurz nach Mitternacht eintraf und von ihren bereits besorgten Schwestern empfangen wurde. Todmüde fiel Maria Annunciata in ihrer neuen Zelle auf ihrer Pritsche in einen tiefen Schlummer und verschlief am folgenden Morgen zum ersten Mal in ihrem Nonnenleben die Prim, das erste kirchliche Stundengebet. Nachdem sie endlich erwacht war, suchte sie das Gespräch zur Schwester Oberin und bat sie um ein weltliches Sabbatical, das sie als Helferin in einem Fitnessstudio für Männer absolvieren wollte.

Michael, 24. April 2020

2 Kommentare zu „Pirelli

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