Sie benötigt unbedingt ein neues Nachthemd. So etwas kann nur in der Nacht entschieden werden, schließlich würde sie es – zumindest meist – nur dann tragen. Von Zerrlunto bis zu Emanzeon wird online alles durchsucht. Farbe, Material, Größe und Bewertung gegeneinander abgewogen. „Schatz, was meinst du. Habe ich dafür die richtige Figur?“, flüstert sie um 23.10. Er ist gerade in seinem Buch „Der letzte Macho“ vertieft. „Naja, das ist halt für ganz Schlanke und das Model hat blonde Haare, da kann ich es mir bei Dir sowieso nicht vorstellen“, murmelt er. Falsche Antwort, wie er kurze Zeit später doch noch feststellen wird. „Meinst Du etwa ich wäre nicht schlank!? Und dass Dir blonde Frauen besser gefallen, ist mir auch nicht ganz neu.“. „Bitte, kannst du mich lesen lassen. Du reißt mich jedesmal aus den Gedanken und ich benötige dann Stunden, um mich wieder hineinzufinden.“, antwortet er desinteressiert. Bei einem modernen Biobaumwoll-Nachthemd bleibt sie länger hängen. Seitlich hohe Schlitze, Figur umspielend, angenehmer Tragekomfort, hört sich gut an. „Schau mal…“, versucht sie sein Interesse wieder zu erlangen. „Was denn jetzt wieder?“, gibt er seinen Widerwillen offen kund. „Schau, das sieht doch toll aus, mit seitlichen Schlitzen!“, meint sie mit sanfter, schon erotischer Stimme. Mit der Antwort „Was soll der Fetzen kosten?“, ignoriert er ihre Bedürfnisse geflissentlich. „Vergiss es!“, sie gibt endgültig auf. Er dreht sich zur Seite und schläft nach wenigen Minuten ein. Das deutliche Schnarchen vergällt ihr zwar den Bestellvorgang, trotzdem empfindet sie so etwas wie Glück. Das kann sie doch sein, er bezahlt schließlich auch die Kleidung, außerdem das Auto, das Haus und die Restaurantrechnungen. Das genießt sie, das will sie so, trotzdem leichte Zweifel. Um 0.30 schläft sie noch immer nicht. Braucht sie überhaupt ein eigenes Auto? Kochen kann sie selber, was sie an sechs Tagen sowieso macht, auf einen siebten Tag kommt es auch nicht an. Und Kleidung? Würde als Kleidung nicht auch tagsüber dieses eine neue Nachthemd reichen. War sie wirklich, also richtig, echt glücklich? Was ist echtes Glück überhaupt? Nur glücklich geht nicht, nur unglücklich aber auch nicht. Die Zweifel werden von Minute zu Minute größer. Gedanken, die vielleicht schon immer in ihr geschlummert haben, gelangen wie eine Urgewalt an die Oberfläche. Ihre Bedürfnisse, ihre Wünsche, spielen in dieser Paarbeziehung keine Rolle. Plötzlich denkt sie an einen Kollegen im Büro, der ihr immer wieder nette Komplimente macht. Keine Anzüglichkeiten, keine blöde Anmache, aber ein spürbares, erotisches Interesse, verspielt, verdeckt, verschmitzt, tiefgründig, liebenswert. Sie steht auf und geht nach draußen. Der kleine Spaziergang durch die Nacht macht sie trotz Finsternis immer mehr sehend. Ihre Frage „Für was?“ findet schnell die Antwort: „Doch nicht für ihn!“. Für den Bürokollegen, ja vielleicht, ist süss, etwas jünger, aber wen stört das. Sie wird sich ein Jahresticket für den Stadtbus besorgen, eine kleine Mietwohnung beziehen, das Frühstück im Café genießen, den Bürokollegen jetzt endlich verführen. Nicht morgen, nein heute beginnt sie damit. Als er am Morgen lachend fragt, ob sie denn angesichts der gepackten Koffer verreisen will, lächelt sie und meint nur, dass sie jetzt noch ein letztes Mal gemeinsam Frühstücken können und sie ihn dann verlassen wird. „Ja, ja, mach nur. Aber ich werde es mir gut überlegen, wenn du in wenigen Tagen heulend angelaufen kommst, kein Geld mehr hast, ob ich Dich dann nochmal anziehen lasse.“, meint er, ohne der Situation auch nur so etwas wie Ernst beizumessen. Als sie die letzte Seite Zeitung umblättert und ein Zitat von Coco Chanel liest, dass die meisten Frauen ihr Nachthemd mit mehr Verstand als ihren Mann auswählen würden, weiß sie, dieser Fehler bleibt einmalig und wird sich nicht wiederholen. Beschwingt schließt sie die Haustür und geht mit den beiden Koffern ohne sich umzudrehen Richtung Bushaltestelle.
Harald. 22. Mai 2020.