Einmal wachte ich mitten in der Nacht auf und entdeckte, dass ich keine Zehen mehr hatte, sondern dass mir stattdessen, während ich geschlafen hatte, an meinen Füßen jeweils fünf Weinbeeren gewachsen waren, auf dem linken Fuß rote, und weiße auf dem rechten. Auch die Zehennägel waren verschwunden. Ich berührte die große Beere an meinem linken Fuß und zog vorsichtig daran, um zu prüfen, ob ich an jener Stelle noch über eine Schmerzempfindung verfügte. Als ich gar nichts spürte, zog ich fester und pflückte daraufhin unabsichtlich die Beere von meinem Fuß und hielt sie irritiert zwischen meinen Fingern. Zu meinem Erstaunen wuchs binnen einer Minute eine neue große Beere nach. Ich zupfte auch am anderen Fuß, nicht nur an der großen Beere, sondern auch an den kleineren. Wie viele Beeren ich auch pflückte, es wuchs an der gerade abgeernteten Stelle jedesmal zuverlässig binnen kürzester Zeit eine neue Beere nach. Sofort rief ich die Privatnummer meines Hausarztes an, die er mir einmal gegeben hatte. Seine Frau hob ab und fragte mich, ob ich nicht ganz dicht sei, weil ich mitten in der Nacht anriefe. Ich ignorierte ihren Vorwurf und verlangte den Doktor persönlich zu sprechen. Als er am Telefon die Ungeheuerlichkeit meiner Schilderung vernommen hatte, bestellte er mich sofort in seine Ordination. Er würde gleich hinfahren, ich soll vor der Tür auf ihn warten, wenn er noch nicht da sei. Ich sputete mich und traf als erster ein, aber schon wenige Minuten später sah ich die Lichter eines Wagens. Es war der Doktor, der sofort ausstieg und seine Praxis aufschloss. Nachdem ich im Behandlungszimmer meine Socken ausgezogen hatte, sah er, dass ich keineswegs geflunkert hatte. Der Doktor untersuchte meine Füße akribisch und drückte vorsichtig auf die Beeren. Er könne mich dort ruhig kräftig anfassen, ermunterte ich ihn, es täte überhaupt nicht weh. Da pflückte auch er eine der roten Weinbeeren von meinem Fuß und hielt sie prüfend gegen das Deckenlicht und musterte sie misstrauisch von allen Seiten, als ihm plötzlich eine Idee kam und er sich die Beere in seinen Mund schob, sie zerbiss und dann schluckte. „Und?“, fragte ich entgeistert. „Wie schmeckt’s?“ „Gar nicht schlecht“, erwiderte der Doktor und probierte auch noch eine von den weißen Beeren. „Du solltest dir bloß öfter die Füße waschen“, sagte er dann zu mir. „Oder nein, eigentlich doch nicht: Weintrauben passen ja gut zu Käse.“ Er schrieb mir ein Rezept auf, für ein paar orthopädische Schuhe, die vorne mit Flaschenglas verstärkt waren, damit nichts auslief, wenn mir beim Gehen eine der Beeren platzte. Weil es ohnehin kaum ein Umweg für ihn sei, wie er sagte, fuhr er mich danach nach Hause.
Michael, 29. Mai 2020