Labyrinth

Einmal, als ich in der spanischen Weihnachtslotterie den Hauptpreis, den legendären El Gordo, gewonnen hatte, war ich mit einem Schlag so reich, dass ich mir jeden Wunsch erfüllen konnte. Es dauerte allerdings bis zum Frühling, ehe mir mein Gewinn überwiesen wurde. Als ich endlich anfing, darüber nachzudenken, was ich mir nun gönnen sollte, fiel mir nichts ein, weil ich ja alles, was ich brauchte, schon hatte. Die freundliche Dame von der Lotteriegesellschaft hatte mir am Tefefon eingeschärft, niemandem etwas von meinem Gewinn zu erzählen, weil sonst die ganze Nachbarschaft im Halbkreis um meinen Fußabstreifer campieren würde, bis ich endlich etwas von meinem Geld herausrückte. Ich hielt mich also an ihren Rat und grübelte angestrengt allein im stillen Kämmerlein, was ich mit meinen Millionen anstellen sollte. Leider hatte ich immer noch keine Idee. Das einzige, was ich mir sofort leistete, war eine sehr diskrete Lieferung von ein paar Sixpacks von dem köstlichen Gerstensaft, den das nahegelegene Biergut in Wildshut braute und vertrieb, für wohlfeile 13,50 pro Flasche. In der Dunkelheit der Abenddämmerung trat ich hinaus ins Freie und ließ zur Entspannung nach dem angestrengten Nachdenken den Bügelverschluss der ersten Flasche aufploppen. Sekunden später spürte ich bereits jemandes Atem im Nacken. Als ich mich erschrocken herumdrehte, bewahrheitete sich meine Befürchtung. Hinter mir stand mein Nachbar Wampeck, der mir offensichtlich bereits aufgelauert hatte. „Na?“, bemerkte er spöttisch und deutete auf meine Flasche. „Gönnen wir uns neuerdings ein anderes Bier? Nicht mehr den alkoholfreien Fastenradler vom Diskonto-Markt, sondern gleich das exklusive Wildshuter? Haben wir etwa in der Lotterie gewonnen?“ „Ich weiß nicht, wie du darauf kommst, Wampeck, aber wenigstens deine Bierkenntnisse hast du dir redlich erworben!“, rief ich und zeigte mit dem Finger auf seine Leibesmitte, an der sich mir unübersehbar eine mächtige Hopfen- und Gerstenmalzkugel entgegenwölbte. „Und wenn hier jemand in der Lotterie gewonnen hat“, setzte ich hinzu, „dann sind es nicht wir, die gewonnen haben, sondern ich bin es, der gewonnen hat, nur ich.“ „Dann stimmt es also doch, was die Spatzen von den Dächern pfeifen!“, rief Wampeck und tippte mir mit seinem dicken Zeigefinger aufs Schlüsselbein. „Ich weiß, dass du mich nicht leiden kannst!“, ergänzte er, „und mir geht es mit dir ja genauso. Du könntest mir aber trotzdem etwas von deinem Gewinn abgeben. Es muss ja nicht gleich alles sein.“ „Warum um alles in der Welt sollte ich das tun, Wampeck?“, fragte ich. „Weil wir Nachbarn sind“, erwiderte er. „Und weil ich nächste Woche meinen Geburtstag feiere. Es ist übrigens ein runder.“ „Wenn du so alt wirst, wie du aussiehst“, entgegnete ich, „dann werde ich es mir überlegen. Zum Hundertsten hat sich wohl jeder ein Geschenk verdient.“ Er deutete mit seinen Pranken eine Würgebewegung an, hielt sich aber dann doch von meinem Hals fern, weil er sich tatsächlich eine finanzielle Zuwendung von mir erhoffte. „Also gut, Wampeck“, lenkte ich ein. „Wenn du jetzt einen Abgang machst und mich in Ruhe mein Bier trinken lässt, werde ich dir etwas schenken.“ Er nickte und schickte sich schon zum Gehen an, als mir plötzlich noch etwas einfiel. „Wie heißt du eigentlich mit Vornamen, Wampeck?“, fragte ich. „Nur für den Fall, dass ich es brauche, weil ich dir eine Glückwunsch-karte schreiben will.“ Wampeck kratzte sich nervös am Kinn. „Vornamen“, sagte er dann, „haben mir meine Eltern keinen gegeben. Brauch ich nicht, haben sie gesagt, ich bin wie Mr. Spock vom Raumschiff Enterprise. Der hat auch keinen.“ Klar“, sagte ich zu Wampeck. „Spock und du, ihr seid ja wie Zwillinge. Was er im Kopf hat, hast du im Bauch.“ Darauf wusste er nichts mehr zu erwidern und trollte sich. Endlich konnte ich in Ruhe mein Bier genießen.
Am nächsten Morgen hatte ich schließlich eine Idee, was ich mit meinem Geld anstellen wollte. Ich rief den Bauern Furchel an und kaufte ihm das kleine Wäldchen, das neben Wampecks und meinem Grundstück lag, um einen so fürstlichen Preis ab, dass Furchel nicht nein sagen konnte. Als der Kaufvertrag, den wir sofort aufsetzten, unterschrieben war, nahm ich unverzüglich Kontakt mit der Gärtnerei Dürrenmatt auf und ließ das Wäldchen noch am selben Tag roden. Auf dem Gelände ließ ich dann in den folgenden Tagen von den fleißigen Gärtnern ein riesiges Labyrinth aus Buchsbaumhecken anlegen. Weil ich keine Kosten und Mühen scheuen wollte, gab ich mich nicht mit kleinen Setzlingen zufrieden, sondern ließ mich aus der Baumschule der Gärtnerei mit bereits übermannshohen Stauden beliefern. Einen Tag vor Wampecks Geburtstag wurde die Anlage fertig.
Am Abend ging ich hinüber zum Nachbarhaus und klingelte. Elvira, Wampecks bessere Hälfte, öffnete. „Ich habe eine kleine Überraschung für deinen Mann, Elvira“, sagte ich. „Er hat ja morgen Geburtstag. Ist er da?“ „Ich hol ihn dir“, erwiderte Elvira, nachdem sie mir zugezwinkert und danach für ein paar Momente zu lang in die Augen geblickt hatte. Wampeck, der schon auf mich gewartet zu haben schien, kam nur wenige Sekunden später bereits auf mich zu. „Ich löse mein Versprechen ein, Wampeck!“, rief ich. „Komm!“ Ich legte meinen Arm auf seine Schulter und führte ihn zum Eingang des Labyrinths. „Diesen Irrgarten“, erläuterte ich, „habe ich eigens für deinen Ehrentag anlegen lassen. Du stehst doch, soweit ich weiß, auf Frauensportmann-schaften. Dir zu Ehren habe ich die Hockeynationalmannschaft einfliegen lassen. Die Damen kommen gerade von einem Spiel und sind vielleicht noch ein wenig verschwitzt. Ich habe im Inneren des Labyrinths, wo die Spielerinnen auf dich warten, Duschen aufstellen lassen. Wenn du den Weg durch den Irrgarten findest, lernst du die Damen kennen und kannst mit ihnen duschen. Du verstehst, was ich meine?“ „Ja, ja“, rief Wampeck erregt und riss sich die Kleider vom Leib, bis er im Adamskostüm vor mir stand. „Ich sehe, du hast es begriffen“, lächelte ich und reichte ihm meine eingeschaltete Taschenlampe und eine Glückwunschkarte. „Alles Gute zum Geburtstag und viel Vergnügen. Nun lauf los!“ Das ließ Wampeck sich nicht zweimal sagen. Er verschwand zwischen den Buchsbaumhecken und war schon wenige Augenblicke später weder zu sehen noch zu hören.
In völliger Stille wartete ich eine geschlagene Stunde im matten Schein einer Straßenlaterne. Dann vernahm ich allmählich erste Geräusche aus dem Labyrinth, ein leises Wehklagen und ein Schaben, das ich mit der schlurfenden Fortbewegung einer geknechteten Person verband. Die Geräusche wurden naturgemäß lauter, je näher die Person drinnen im Labyrinth dem Ausgang kam. Schließlich tauchte Wampeck auf, in gebeugtem Gang, am ganzen Körper von Beulen und Schrammen übersät. „Wampeck!“, rief ich mit gespieltem Entsetzen. „Was ist denn mit dir los?“ „Ich habe das Ziel im Innersten des Irrgartens erreicht“, berichtete Wampeck. „Aber die Damen wollten gar nicht duschen. Es waren lauter alte Schabracken in Pepitakostümen, die mich mit irgendwelchen krummen Stöcken windelweich geprügelt haben, als ich plötzlich nackt vor ihnen aufgetaucht bin.“ „Du hast mich reingelegt“, fügte er hinzu. „Du hast gesagt, es wäre die Hockeynationalmannschaft.“ „Das war sie ja auch“, erwiderte ich, „aber die von 1948. Tut mir leid, wenn ich vergessen habe, das zu erwähnen.“ Wampeck hob drohend die Faust. „Das zahle ich dir heim.“ Dann ging er grußlos nach Hause. Auch ich suchte wieder mein Heim auf, trank noch ein Bier und legte mich dann ins Bett, zufrieden über meinen gelungenen Streich.
Fünf Minuten später hörte ich von draußen vor meinem Schlafzimmerfenster einen Höllenlärm. Ich schob die Vorhänge zur Seite, blickte hinaus und entdeckte Wampeck, der in der Dunkelheit auf seinem Rasentraktor saß, von dem er alle Schutzbleche abmontiert hatte, damit das Gerät noch lauter war. Er mähte die ganze Nacht.

Michael, 12. Juni 2020

2 Kommentare zu „Labyrinth

  1. Die Damen der Hokeynationalmannschaft aus 1948 als Schabraken zu bezeichnen, ist ein starkes Stück! So sie noch lesen können, wirst du eine Verleumdungsklage einfangen.🏑🏑🏑

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