„Der Sommer hat doch noch gar nicht richtig angefangen“, antwortete sie auf die Frage, ob sie denn zum Johannisfeuer mitkommen wollen würde, „und die Tage sollen schon wieder kürzer werden?“. Diese Sommersonnenwende kam viel zu schnell, fast schon überraschend, gerade doch erst den Frühling genossen und jetzt die Umkehr. Die Sonnwendfeiern waren nicht ihr Fall, weshalb Victoria ihm etwas anderes vorschlug. So machten sie sich in besagter Nacht auf den Weg zur Wiese, die sich am Waldesrand befand, um Kräuter zu sammeln. Es war bereits finster und sie gab ihm genaue Anweisungen, welche Pflanzen notwendig wären. Sie suchten gemeinsam unter anderem nach Mohn, Kornblumen und Johanniskraut, diese Pflanzen gelten als besonders heilbringend. Der Höhepunkt sollte aber erst folgen.
Während aus der Ferne bereits wohl betrunkene, meist in Tracht gekleidete Menschen, die dem Sonnwendfeuer beiwohnten, zu hören waren, suchten die Beiden den in der Nähe gelegenen Moorsee auf. Victoria hatte vom Brauch gehört, ein sogenanntes Johannisbad in einem See zu nehmen, was für einen besonderen Schutz sorgen würde. Badekleidung war nicht vorgesehen, es war auch finster genug, sodass ihr Begleiter hoffentlich nichts gegen das textilfreie Badevergnügen hatte. Wichtig war, dass dieses Ritual schweigend vollzogen werden musste. Sie zog sich zur Gänze aus, er riskierte aufgrund der inzwischen völlig eingetretenen Finsternis den einen oder anderen Blick, der aber wenig Aufschluss brachte und entledigte sich selbst auch seiner Kleider. Bedächtig gingen sie in den See und schwammen etwas hinaus. Beide genossen die Stille und berührten sich manchmal zufällig. Nach wenigen Minuten küssten sie sich und tauschten erste Zärtlichkeiten aus. Wieder am Ufer, suchten sie erst gar nicht ihre Kleider, sondern gaben wortlos ihren Gelüsten nach. Kurz nachdem sie von einander abließen, hörten sie plötzlich Geräusche, die vom nahe gelegenen Weg kamen. Mit einer Taschenlampe bewaffnet torkelten zwei Sonnwendfeuer-Besucher nach Hause. Victoria und ihr Partner suchten inzwischen am Uferrand verzweifelt nach ihrer Kleidung und raschelten wohl etwas. Die Taschenlampe erfasste Victoria plötzlich und beide gingen einige Schritte auf die Torkelten zu, um sie zu ersuchen, mit der Taschenlampe die Kleider zu finden. Da sie nach dem Liebesspiel aufgrund der dort befindlichen Erde von oben bis unten samt Gesicht schwarz erschienen und einige Blätter sich auch noch in diesem Schlamm verfangen hatten, fingen die beiden Betrunkenen laut zu kreischen an und liefen völlig wirr davon. Nach wenigen Sekunden war der Erste, jener ohne Taschenlampe, gegen einen Baum gelaufen und schrie auf. Dem Zweiten ging es nicht viel besser, weil das Liebespaar ihn noch kurz wegen dem Ausborgen der Taschenlampe verfolgt hatte. Als er bereits einige hundert Meter Vorsprung hatte und immer noch voller Angst lief so schnell er konnte, stolperte über ein Totholz und lag wimmernd auf dem Boden. Irgendwann dürften sich die Betrunkenen wieder gefunden haben und kamen leicht blessiert nach Hause. Am nächsten Tag verbreitete sich im Ort die Geschichte der Moorgeister, die nächtens aus dem See stiegen, um unschuldige nächtliche Heimkehrer zu verfolgen. Der tatkräftige Bürgermeister hatte bereits im kurz danach erschienenen Gemeindebrief seine Bürger aufgefordert, diesen Weg in Zukunft zu meiden. Das nun fix liierte Paar konnte so jedes Jahr völlig ungestört das Johannisbad sowie das anschließende Liebesspiel genießen. In einem Jahr, als sie ihre Kleider gar nicht mehr fanden und nackt nach Hause gingen, dürfte sie jemand gesehen haben. Jedenfalls hatte der Bürgermeister im Vatikan zwei Exorzisten angefragt, die aber leider ausgebucht waren, um mehreren Präsidenten alte Geister auszutreiben.
Harald, 19. Juni 2020.