Haute Mer

In einer lauen Sommernacht zocke ich mit wechselndem Erfolg im Casino von Monte Gasso. Nach einer kleinen Pechsträhne begebe ich mich hinaus auf den Balkon, um dort eine Zigarette zu rauchen und meine Strategie zu überdenken. Nach einer Weile werde ich von einem Mann, der mir sehr bekannt vorkommt, um Feuer gebeten. Einige Augenblicke später fällt es mir ein, dass es sich um den Fürsten persönlich handelt. Ich bitte ihn um Verzeihung, dass ich ihn nicht sofort erkannt hätte. Er winkt ab und eröffnet mir, dass es manchmal sehr angenehm sei, wenn man sich anonym in der Masse bewegen könne. Während wir rauchen und den wolkenlosen Nachthimmel betrachten, kommen wir ins Gespäch. Ich erwähne meine kleine Pechsträhne und frage den Fürsten, wie es bei ihm denn liefe im Spiel und in der Liebe. Auch eher durchwachsen, antwortet er. Das Casino schreibe neuerdings Verluste, was ganz und gar unerfreulich sei. Er hoffe, dass bald wieder einmal goldene Zeiten für die Spielbank anbrächen. Angesehen davon entwickle sich wenigstens sein Lieblingsprojekt einigermaßen zufriedenstellend. Er hätte vor geraumer Zeit bei der Europäischen Union um Fördermittel für den Ausbau des Busnetzes angesucht, weil er der Meinung sei, dass es den Geldsäcken in seinem Fürstentum gut zu Gesicht stünde, wenn sie sich zuindest gelegentlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortbewegten. So lernten sie wenigstens ein klein wenig Demut. Die Förderung der EU sei so üppig ausgefallen, sagt der Fürst, dass seine Regierung einen kilometerlangen Damm hinaus ins offene Meer aufschütten hätte lassen, auf dem nun eine eigene Buslinie verkehrte, die erst irgendwo an einer Umkehrschleife weit draußen auf hoher See ihre Endhaltestelle hätte. Das klinge ja sehr erfreulich, erwidere ich und frage, ob die Montegassen die neue Linie denn so gut annähmen, wie er sich erhofft hätte. Leider nein, seufzt der Fürst und lässt sich von mir Feuer für eine weitere Zigarette geben, kaum jemand wolle mit dem Bus auf Meer hinaus, obwohl die Takte kurz seien und eine Fahrt nur fünfzig Cent koste. Er müsse aber gestehen, dass auch er selbst erst einmal hinausgefahren sei bis zur Umkehrschleife. Das sei kurz nach der offiziellen Eröffnung gewesen. Er hätte sich einen falschen Backenbart auf die Wangen geklebt und sein linkes Auge mit einer Klappe bedeckt, damit niemand ihn erkannte. Die Strecke sei aber sehr schön, sagt er, ein wenig eintönig vielleicht. Wenn ich aber einmal abschalten und die Sorgen des Alltags hinter mir lassen wolle, sei eine Fahrt sehr zu empfehlen. Das klinge sehr interessant, sage ich. Ich wolle seinen Vorschlag bei Gelegenheit gern aufgreifen. Der Fürst bittet mich noch um eine Zigarette, da er die letzte aus seinem eigenen Päckchen gerade geraucht hätte. Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck bläst er langsam den blauen Dunst aus seiner Lunge in die sommerwarme Nachtluft. Ich habe den Eindruck, dass er noch etwas auf dem Herzen hat. Er gibt sich einen Ruck und fängt wieder zu erzählen an. Persönlich ginge es ihm nicht besonders gut, gesteht er und zieht an seiner Zigarette. Er wisse aber nicht, ob es mich überhaupt interessierte. Weil ich ihn aber vorhin gefragt hätte, wie es bei ihm denn liefe im Spiel und in der Liebe, wolle er mir auch seine aktuelle Gefühlslage nicht verschweigen. Seine Frau, die Fürstin, sei nämlich, wie schon so oft, gerade wieder einmal verschwunden. Seit einigen Tagen schon sei sie weg, ohne dass sie irgendjemandem Bescheid gesagt hätte, wohin sie reise. Ihm würde sie es schon gar nicht sagen, klagt er, mit ihm wechsle sie überhaupt nur noch selten ein Wort. Dennoch mache er sich große Sorgen um seine Frau, sagt der Fürst, da sie ihm immer noch sehr viel bedeute. Was er erzähle, klinge bitter, erwidere ich. Monte Gasso sei ein so märchenhaft schöner Flecken und sie lebten als Fürst und Fürstin gewiss ohne materielle Sorgen in ihrem Paradies. Unter diesem Gesichtspunkt könne ich es gar nicht verstehen, sage ich, dass die Fürstin vor all dieser Herrlichkeit die Flucht ergreife. Mit einem Mal wird der Fürst ganz melancholisch und kann nur mit Mühe die Tränen unterdrücken. Er dämpft seine Zigarette aus und erklärt mir, dass er sich jetzt wieder zurückziehen müsse, weil er noch ein paar unaufschiebbare Staatsgeschäfte zu erledigen hätte. Sein Dank dafür, dass ich ihm mein Ohr geliehen hätte, sei mir gewiss. Wenn mir übrigens, wovon er nicht ausgehe, seine Frau über den Weg laufe, dann solle ich ihr doch bitte ausrichten, dass sie bitte nach Hause kommen möge. Ich verspreche es ihm, schüttle dem Fürsten zum Abschied die Hand und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Nachdem er mich zurücklassen hat, bleibe ich noch eine Weile allein auf dem Balkon zurück und betrachte den Sternenhimmel. Mir ist nun nicht mehr nach Glücksspiel zumute. Ich wechsle drinnen am Schalter meine Jetons zurück in Bargeld und verlasse das Casino. Während ich langsam zu meinem Hotel zurückwandere und dabei über mein Gespräch mit dem Fürsten nachdenke, komme ich an einer Busbucht vorbei, in die genau in diesem Augenblick ein Bus einfährt, in dem sich keine Fahrgäste befinden. Auf dem Hinweisdisplay an der Stirnseite lese ich Haute Mer. Sofort wird mir klar, dass es sich um einen Bus jener Linie handeln muss, die der Fürst mir empfohlen hat. Ich packe die Gelegenheit beim Schopf, steige vorne ein und löse beim Fahrer ein Ticket. Nach einer zwanzigminütigen Fahrt über den Damm, der fast schnurgerade auf das offene Meer hinausführt, erreichen wir kurz vor Mitternacht das Ziel, die Umkehrschleife mitten auf hoher See. Der Fahrer weist mich an, auszusteigen. Ich sei gemäss der Beförderungsbedingungen dazu verpflichtet. Im übrigen käme ohnehin in zwanzig Minuten der nächste Bus, mit dem ich dann selbstverständlich wieder zurückfahren könne. Ich leiste den Anweisungen des Fahrers Folge und steige aus. Ich sehe zu, wie der Bus in der Dunkelheit verschwindet. Neben dem nach vorne offenen Wartehäuschen steht eine einsame Straßenlaterne mit einem LED-Licht, deren Schein vielleicht fünfzig Meter auf das offene Meer hinausreicht. Ich setze mich auf die Bank in dem Häuschen und lausche dem Rollen der nächtlichen See. Ich bin nun bereits so müde, dass ich fast einnicke. Plötzlich aber fahre ich hoch, weil ich draußen auf dem Wasser etwas bemerke. Erst denke ich, dass es sich um einen Meeresbewohner handeln müsse, einen Fisch, einen Hai womöglich, der sich auf nächtlicher Jagd nach Beute befindet. Dann erst, als sich genauer hinsehe, erkenne ich, dass es ein menschlicher Kopf ist, der von einer Badekappe bedeckt wird und zu einem Schwimmer oder einer Schwimmerin gehört, der oder die mitten in der Nacht im offenen Meer unterwegs ist. Ich springe von der Bank auf und mache mich bemerkbar, winke hinaus aufs Wasser und frage, ob ich irgendwie behilflich sein könne. Die Gestalt schwimmt anmutig an die kleine künstliche Insel heran, auf der die Umkehrschleife liegt. Als sie aus dem Wasser steigt, sehe ich, dass sie einen Schwimmanzug in den Farben Weiß und Rot trägt. Es ist eine Frau. Ja, sagt sie, als sie auf mich zukommt, ich könne ihr in der Tat behilflich sein und ihr den Bademantel reichen, der an der Seitenwand des Wartehäuschens an einem Haken hänge. Ich hole das Kleidungsstück und lege es der Frau um die Schultern. Auf der Rückseite des Bademantels entdecke ich plötzlich das fürstliche Wappen. Ich habe nun keinen Zweifel mehr, wen ich vor mir habe. Ich solle ihr von ihrem Ehemann etwas ausrichten, sage ich zu der Fürstin, nämlich, dass sie bitte nach Hause kommen möge und dass sie ihm immer noch sehr viel bedeute. Sie habe doch nur ein paar Runden schwimmen wollen, seufzt die Fürstin. Als ehemaliger Leistungsschwimmerin stehe ihr dies einfach zu. Ihr Gemahl sei immer so wahnsinnig empfindlich, wenn sie sich eine kleine Auszeit nähme. Dass sie ihm immer noch sehr viel bedeute, gesteht sie, hätte er ihr aber schon lange nicht mehr gesagt. In diesem Augenblick fährt der nächste Bus in die Umkehrschleife ein. Es wäre mir eine Ehre, sage ich zu der Fürstin, wenn ich ihr auf der Rückfahrt Gesellschaft leisten dürfe. Sie nickt huldvoll. Wir steigen ein. Während die Fürstin nach hinten durchgeht, um im Heck des Busses zwei Plätze für uns auszuwählen, löse ich beim Fahrer die Tickets.

Michael, 26 Juni 2020

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