Nachterkenntnis

„Wo bin ich?“, fragte Julia leise. Es war finster, keiner antwortete. Sie war doch nur kurz eingeschlafen, der linke Fuß tat ihr etwas weh, aber sie konnte ihn immerhin bewegen. Langsam stand sie auf, versuchte sich nach vorne zu tasten, spürte eine Wand. Sie ging an der Wand entlang, fand einen Türgriff. Sie öffnete die Tür, immer noch finster. Mit den Händen nach vorne gerichtet bewegte sie sich weiter durch den Raum. Keine Öffnung, nur Wände, gefangen, selbst die Tür durch die Sie gekommen war, schien verschwunden zu sein. „Du bist bei mir.“, hörte Julia in der Stille die Antwort. Eine tiefe Stimme, kam ihr seltsam bekannt vor, trotzdem stellte sich keine Beruhigung ein, schließlich war die Kellertradition in diesem Land manchmal nicht die Beste. „Wer bist du?“, fragte sie weiter. „Das ist die falsche Frage. Du weißt doch nicht, wer du bist. Suche auf diese Frage eine Antwort.“, hörte sie die Stimme und vernahm ein unangenehmes Lachen. Es wurde ihr zu blöd und sie meinte schnippisch: „Ich bin Julia, bin glücklich liiert, fahre ein Mercedes-Cabrio, habe einen tollen Job und genieße guten Wein.“. Jetzt hörte sie ein lautes Prusten: „Du bist also ein Cabrio, das ganz toll arbeitet und anscheinend statt Benzin mit Wein fährt. Bist DU das wirklich?“. Sie wollte gerade erwidern, dass sie das nicht gesagt hätte, wurde aber plötzlich unsicher. Sie sprach im Dunkeln mit einer Stimme, die vielleicht doch nicht mit der Frage so falsch lag. Wer war sie wirklich, ohne Job, ohne Partner, ohne Cabrio? „Ich bin… Ich bin…“, sie stockte. „Julia, das ist nicht schlimm, lasse Dir Zeit, überlege, ich brauche keine Antwort. Ich stelle nur eine Frage, eine Frage im Raum.“,  meinte der Fremde und trotzdem so Vertraute. Plötzlich wurde es hell, ihr Lebensgefährte stand vor ihr. Sie war wohl kurz vor Mitternacht die Treppe zum Weinkeller heruntergefallen, hatte eine kleine Gehirnerschütterung und befand sich nun im angrenzenden Heizungsraum, der einen unangenehmen Geruch verbreitete. Sorgenvoll blickte er sie an. Sie beruhigte ihn schnell, nichts ist passiert. Als sie nach oben ging, kamen mit jeder Stufe neue Antworten. Kurze Zeit später inserierte sie das Cabrio, um sich eine Elektro-Vespa stattdessen zu kaufen, kündigte den Job, um zu studieren und nahm ihren Partner fest in den Arm, um ihm zu sagen, dass sie glücklich wäre, sie, Julia, die Wirkliche. Ihr Partner wunderte sich kurz über die Aussage, genoss aber die Umarmung, die anders war, sich aber so echt anfühlte.

Harald, 10. Juli 2020

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