Nachdem in der restlos ausverkauften Günther-Platter-Festhalle in Zams in Tirol nach der vierten Zugabe und minutenlangen Standing Ovations endlich die „Hansi! Hansi“- und die Zugaberufe abgeklungen waren, schlich der ewig junge blonde Sänger erleichtert von der Bühne und ließ sich in seiner Garderobe erschöpft in seinen Stuhl fallen. Seit Jahrzehnten schon hatte er auf seinen Tourneen immer alles aus sich herausgeholt, was seine Fans sich von ihm ersehnt hatten, hatte sie mit seinen ewig gültigen Liedern aus den Kitzbühler Bergen verzückt und war dabei stets der selbe geblieben. Der Preis, den er dafür bezahlt hatte, war hoch. Das Publikum wusste nicht, dass er am Beginn seiner Gesangskarriere gar nicht der gewesen war, für den es ihn gehalten hatte. Er war nie jener ehemalige Schirennläufer gewesen, unter dessen Namen er nun schon seit mehreren Dekaden auftrat. Er hatte sich den Namen gekauft und führte seither ein aufreibendes Doppelleben, in dem er sich zielstrebig seinen Ruhm ersungen hatte.
Mühselig beugte er sich hinunter und versuchte sich mit großer Anstrengung die buschigen Seehundfellmoonboots von den schweißnassen Füßen zu ziehen, was ihm erst nach 20 Minuten gelang. Er atmete schwer, musterte sich im Garderobenspiegel und befreite sich dann von der blonden Mähne, die bloß eine Perücke war. Darunter kam sein alter beinah kahler Kopf zum Vorschein, dessen von den Jahren gezeichneter Zustand erst richtig zutage trat, nachdem der Sänger sich abgeschminkt hatte. Sein ganzes Gesicht war übersät von riesigen braunen Altersflecken und von Falten, die sich wie tiefe Furchen in das Antlitz des Mannes eingegraben hatten. Am Ende nahm er auch noch das makellos strahlende weiße Gebiss aus seinem Mund, indem nur ein paar stumpfe Zahnstumpen zurückblieben. Er schlüpfte aus seiner Bühnenkleidung und vertauschte sie gegen ein unauffälliges, aber exklusives Altherrenoutfit. Danach verstaute er Moonboots, Bühnendress, Schminksachen, Gebiss und den Umschlag mit seinem Honorar in seinem Hartschalenkoffer, ohne den er nie zu seinen Auftritten reiste.
Zuguterletzt kümmerte er sich noch um das Herzstück seines gesanglichen Ruhms. Es handelte sich um einen mikroprozessorgesteuerten Lautsprecher, aus dem all die Lieder kamen, die die Herzen seiner Fans erfreuten. Da er selbst überhaupt nicht singen konnte, hatte er von Anfang an diese Lösung gewählt und sie im Lauf der Jahrzehnte immer weiter verfeinert. Er löste den Lautsprecher, der mit Haftcreme oben an seiner Gaumenplatte befestigt war, behutsam von seinem Oberkiefer und verstaute das kleine Wunderwerk der Technik in einer eigens dafür angefertigten Schatulle, die ebenfalls in den Koffer wanderte.
Nun war er endlich bereit für die Heimreise. Er zog seinen Koffer hinter sich her und stieg am Hintereingang der Festhalle in ein dort bereits wartendes Taxi, das ihn in der nächtlichen Dunkelheit sofort zum Flughafen nach Innsbruck brachte. Den dort bereitstehenden Privatjet steuerte der müde greise Sänger selbst durch die Nacht. Nach einer Flugzeit von etwa zwei Stunden landete das Flugzeug vor allem dank des Autopiloten sicher auf dem Flughafen von Gatwick nahe London.
Hundemüde stieg der Alte in einen Landrover um und machte sich auf den Weg nach Hause. Aufgrund seines halsbrecherischen Fahrstils, der die Beachtung der gängigen Verkehrsregeln nicht einschloss, überfuhr der Greis bei seinem Ritt über die nächtlichen Landstraßen drei Ziegen, ein entlaufenes Alpaka und ein unvorsichtiges Eichhörnchen. Ein Krankenpfleger, der nach Schichtende auf seinen Nachhauseweg war, sprang vor dem heranbrausenden Landrover gerade noch rechtzeitig zur Seite und kam mit dem Leben davon.
Nach Mitternacht erreichte der rasende Greis endlich sein Ziel und stoppte sein rauchendes Fahrzeug vor dem weitläufigen Eingangsbereich eines wirklich stattlichen Anwesens. Als er schwitzend aus dem Wagen gestiegen und mit seinem Rollkoffer die feudale Treppe zur Eingangstür hinaufgehumpelt war, wurde er dort zu seiner Überraschung bereits erwartet. Eine kleine Frau in einem schweren Brokatmorgenmantel stand da und fuchtelte drohend mit einem Teppichklopfer. „Du kommst spät, Philip!“, kreischte sie. „Wo hast du dich herumgetrieben?“ „Sie wollten vier Zugaben“, seufzte der zur Rede Gestellte. „Und dann bin ich ewig nicht aus verdammten Moonboots herausgekommen. Es tut mir leid, Liz, es wird nicht wieder vorkommen.“ „Sei gewarnt, Philip!“, rief die kleine Alte. „Wenn du noch einmal so spät kommst, wirst du ihn hier spüren!“ Sie ließ den Teppichklopfer über ihrem Kopf kreisen.
Der Greis nickte müde und wollte sich zum Betreten des Anwesens anschicken. ‚Halt!“, rief die kleine Frau und versperrte ihm den Weg. „Wir sind noch nicht fertig. Wo ist es?“ Seufzend holte der Alte den Umschlag mit seiner Gage heraus und übergab ihn seiner Frau, die das Kuvert sofort öffnete und das Geld zählte. „Wenigstens das ist wie vereinbart“, sagte sie schließlich zufrieden und schob Geld und Umschlag in die Tasche ihres Morgenmantels. „Gute Nacht, Philip!“ Sie drehte sich herum und verschwand ohne ein weiteres Wort in dem Gebäude. Ihr leidgeprüfter Gatte atmete noch einmal tief durch und machte sich dann ebenfalls auf den Weg in sein Schlafgemach, sodass in jener Nacht nun endlich Ruhe einkehren konnte auf Windsor Castle.
Michael, 10. Juli 2020