Die Wilderin – Die 200. Bloggeschichte

Das blaue Klappfahrrad, das an der Birke lehnte, war mittlerweile zum E-Bike umgerüstet worden. Der kleine Scheinwerfer des Fahrrades leuchtete in den nächtlichen Wald. Felicitas war wieder einmal ein wenig vom rechten Weg abgekommen und stand plötzlich vor einem ihr unbekannten Hochstand, den sie an dieser Stelle noch nie gesehen hatte. Ihr Interesse war geweckt. Sie kletterte die alten Holzsprossen hinauf und öffnete die knarrende Tür, die von Spinnweben überzogen war. Ängstlich warf sie den ersten Blick ins Innere und sofort stockte ihr der Atem. Leicht zitternd schaltete sie das Licht ihres Mobiltelefons ein. Sie erschrak. Vor ihr saß ein männliches Skelett mit einer alten Doppelbüchse, das Visier auf die Lichtung gerichtet. Es war noch ein Anflug eines Grinsens im Gesicht des Toten zu erkennen. Auf seinem Schoß lag einer zerfledderte Playboy-Ausgabe aus dem Jahre 1980, in der eine gewisse Bo Derek abgebildet war. Daneben befanden sich unter einer Staubdecke eine fein säuberlich zusammengelegte Jagdhose und ein kariertes Hemd samt Trachtenjanker. Felicitas war sich zuerst unsicher, ob es sich um den damals gesuchten unbekannten Wilderer handelte, der im Flachgau sein Unwesen getrieben hatte. Als sie oben auf der Ablage den Tirolerhut mit Gamsbart fand, auf dem Johann Bertram Hasenstab gestickt war, erhärtete sich der Verdacht. Felicitats konnte mittels Hilfe ihres Mobiltelefons schnell feststellen, dass es sich um einen Nachfahren des berühmten deutschen Wilderes Johann Adam Hasenstab handeln musste. Sies nahm andächtig die Schrotflinte in die Hand und ein Kribbeln überkam sie. Zeitlebens war sie sich unsicher gewesen, was sie ihre Berufung war. Sie legte die Schrotflinte an ihre Schulter und in diesem Augenblick spürte sie die Magie der Jahrhunderte alten Tradition. Auf der Lichtung tauchte unvermutet ein Riesenkeiler auf, dessen Hauer fast einen halben Meter lang waren. Sie legte an und zielte. Sie drückte ab und tatsächlich befand sich noch eine Patrone im Lauf. Der fast 200 kg schwere Keiler sackte getroffen zusammen und war sofort tot. Sie steckte den Playboy ein, begab sich hinunter auf die Lichtung und steckte dem erlegten Wild einen Zweig als Bruch ins Maul, wie es die Jägertradition verlangte. Anschließend versuchte sie das Tier zu schultern. Schnell musste sie erkennen, dass ihre Jagdbeute nicht zu bewegen war. Zufällig kam Justus des Weges, etwas erschöpft, da seine neue Liebhaberin, mit der sich kurz davor im Wald getroffen hatte, sehr ausdauernd sein konnte. Felicitas wäre normalerweise eifersüchtig gewesen, hatte jetzt aber andere Probleme. Justus war schnell überredet, das Tier aus dem Wald zu schleifen. Nach wenigen Metern hatte Justus die grandiose Idee, das PS-starke blaue E-Bike von Felicitas für den weiteren Transport des toten Keilers zu nutzen. Um den Keiler gut befestigen zu können, entledigte sich Felicitas ihres Lederslips, den Justus mit eingestecktem Taschenmesser in einen langen Streifen schnitt, diesen dem Keiler um den Hals band und das andere Ende am Fahrrad festmachte. Als Justus nach wenigen Metern fast die Böschung hinuntergestürzt wäre, bat er Felicitas sich doch zumindest ihre Hose wieder anzuziehen, da sonst seine Aufmerksamkeit stark leiden würde. Sie waren schon fast an der Hauptstraße angelangt, wo Justus sein Auto geparkt hatte. Auf einmal hörten sie Stimmen. Es handelte sich um zwei Polizistinnen und den örtlichen Jäger, der angesichts des nächtlichen Schusses sofort wieder auf Wilderei getippt hatte und dem die Jahrzehnte zurückliegende, nicht aufgeklärte Wildererserie immer noch schwer im Magen lag. Die Polizistinnen richteten bereits die Taschenlampe auf Felicitas und Justus, für ein Entkommen war es zu spät. Justus ging selbstbewusst vor und begrüßte das Trio. Er verwickelte die zwei Polizistinnen in ein nettes Gespräch und ließ seinen Charme spielen. So abgelenkt konnte Justus die Fahrt fortsetzen, wobei der örtliche Jäger angesichts des merkwürdigen Fahrradanhängers schweren Verdacht schöpfte. Felicitas hatte sich aber während Justus mit den Polizistinnen geflirtet hatte, ihrer Hose und ihrer Oberkleidung entledigt und den Eber damit abgedeckt. Der Jäger sah die nackte Felicitas und brachte kein Wort mehr heraus. Die Polizistinnen machten Justus darauf aufmerksam, dass ein Fahrradhänger mit einem entsprechenden Rücklicht auszustatten sei, aber sie wollen aufgrund des angenehmen Gesprächs diesmal ein Auge zudrücken. Als der örtliche Jäger seine Kamera zücken wollte, um diesen Moment für einen spätere Betrachtung festzuhalten, machten ihn die beiden Polizistinnen darauf aufmerksam, dass in Österreich „Upskirting“ mittlerweile streng verboten war. Dem verdutzten Jäger blieb der Mund offen stehen, während Justus und Felicitas sich schnell auf dem Weg zum Auto machten. Das E-Bike wurde gegen das Auto eingetauscht und am Kofferraum der Eber mittels des Lederslips festgebunden. Schnell war das Gasthaus erreicht. Mit dem Wirt wurden sie rasch handelseins. Am nächsten Tag kam ein ortsbekannter Alkoholiker mit einem Playboyheft bewaffnet zur Polizeistation. Er hätte in der Nacht ein Fahrzeug gesehen, dass einen Keiler hinter sich hergezogen hätte und auf dem eine unbekleidete Frau geritten wäre. Zum Beweis hätte er das Heft mitgenommen, das die reitende Frau verloren hatte. Die Polizistinnen schüttelten den Kopf und waren nicht bereit, eine Anzeige für diesen Unfug entgegen zu nehmen. In der darauffolgenden Nacht legte Felicitas in dem für sie neuen Hochstand ihre Kleidung ab, legte sie fein säuberlich zusammen und grinste, als sie unten die Stimme von Justus vernahm. Im Jahr 2019 begann wieder eine Wildererserie, die bis heute nicht aufgeklärt werden konnte.

Harald und Michael, live aus einem Wald im Flachgau.

6 Kommentare zu „Die Wilderin – Die 200. Bloggeschichte

  1. Gratuliere zur 200. Blockgeschichte! Ich kann mit nicht vorstellen, wie man an einer Geschichte zu zweit schreiben kann! Aber es ist offenbar gelungen.
    LG P

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