Grundsätzlich fühlte Werner heute sich sehr schwach. Tagsüber hatte es angefangen und jetzt in der Nacht wurde es nicht besser. Er konnte nicht einschlafen, obwohl er am nächsten Tag fit sein wollte. Er freute sich mit seinen 94 Jahren auf den Besuch einer nur unwesentlich jüngeren Jugendliebe am nächsten Tag. Es ist immer schwierig, wenn jemand sich auf etwas freut, dachte er. Dann kamen sofort die Gedanken an das, was alles passieren könnte. Der Zug, mit dem sie kommen würde, könnte entgleisen. Sein Herz könnte in dieser Nacht zum Schlagen aufhören. Sie würden sich am Bahnhof vielleicht nicht mehr wieder erkennen. Das machte ihm aber gar nicht so viel Sorgen, nein, viel beunruhigender war, dass der Weltuntergang in dieser Nacht, in der er sich auch noch schwach fühlte, passieren könnte. Es würde nichts übrig bleiben, nicht einmal ein Gedanke. Ein Kometeneinschlag war doch jederzeit möglich. Das jüngste Gerichte könnte in dieser Nacht tagen, die vier apokalyptischen Reiter starten in Kürze ihr vernichtendes Werk. Auch hatte er nicht nur Asterix und Obelix aufmerksam gelesen, sondern war auch über die Kelten bestens informiert, sodass er nach einigem Überlegen auch zum Entschluss gekommen war, das einem selbst und der restlichen Menschheit der Himmel auf den Kopf fallen könnte. Das Schlimme seiner Schlussfolgerungen war, dass all diese heute Nacht stattfinden könnten und er dies in keiner Weise verhindern könnte. Ihm war es egal, dass vielleicht das Überleben der Menschheit langfristig sowieso nicht möglich sein würde. Nein, morgen kommt seine Jugendliebe und der Weltuntergang könnte alles verhindern. Würde er einen Tag später stattfinden, der Weltuntergang, wäre es ihm schon fast egal gewesen. Auch die ex tunc – Betrachtung nach erfolgten Weltuntergang, also selbst wenn er seine Jugendliebe getroffen hätte, es aber nach Weltuntergang keine Rolle mehr spielen würde, da alles weg ist, konnte ihn nicht aufheitern. Es war jetzt bereits nach Mitternacht und er wurde immer unruhiger. Supernova und Nuklearbombe, wäre doch alles heute Nacht noch möglich. Vulkanausbruch würde wohl nicht sofort zum Auslöschen der gesamten Menschheit führen, weshalb er ihn nicht näher in Betracht zog. Er rannte mittlerweile in seiner Wohnung auf und ab und wollte schon die ihm bekannte Nummer der Telefonseelsorge anrufen. Er besann sich dann aber wieder auf seine Zeitaufgeschlossenheit und startete den PC. Er gab den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang ein und wurde vom Suchergebnis wahrlich überrollt. Er war bei weitem nicht der Einzige, der das für möglich hielt. Eine halbe Stunde später war er mit seinem Nerven völlig am Ende, er zitterte und hatte wenig Hoffnung auf das heiß ersehnte Wiedersehen. Als er gerade den Bildschirm abschalten wollte, sah er ganz unten eine Berechnung des französischen Mathematiker Pierre Simon de Laplace. Das morgen die Sonne aufgehen würde, hat eine Wahrscheinlichkeit von 99,990002 %. Was für eine Nachricht, die Sonne wird auch morgen scheinen, er wird seine Jugendliebe treffen. Als er am Morgen nach einer sehr stürmischen Nacht aufwachte, die Blumen besorgte, am Bahnsteig stand, sie aus weiter Entfernung bereits erkannte, ihr Lächeln sah, die erste Berührung von ihr wahrnahm, war ihm klar, dass er sich mit gleich hoher Wahrscheinlichkeit sich wieder in sie verlieben würde.
Harald, 31. August 2020.