Einmal entdeckte Henriette in der Handarbeitszeitschrift, die sie abonniert hatte, eine Beilage, in der sich eine Anleitung befand, wie man aus handelsüblichen Wollknäueln Pullover kinderleicht hexen konnte, anstatt sie in kontemplativer Nachtarbeit selbst zu stricken. Ehe sie die Anleitung genauer las, schob sie noch ein paar Briketts in den antiquierten Kanonenofen, mit dem sie immer noch heizte. Da es sich um die Februarausgabe der Zeitschrift handelte, hielt Henriette das Ganze für einen schlechten Faschingsscherz. Um ganz sicher zu gehen, legte sie ein halbes Dutzend Wollknäuel vor sich auf den Couchtisch, schlug die Anleitung auf und sprach mit großer Ernsthaftigkeit die komplizierten Sprüche, die darin standen und die keiner gängigen Sprache anzugehören schienen. Als die letzten Worte verklungen waren, braute sich über dem Tisch plötzlich ein kleiner Sturm zusammen, der alle Wollknäuel gleichzeitig abwickelte und die Fäden in Windeseile in wirr anmutenden Strudeln miteinander verknüpfte. Dazu erklang wie aus dem Nichts finnische Tangomusik. Als der Sturm sich schließlich gelegt hatte, ebbte auch die Musik ab. Henriette fand auf dem Tisch einen fertig gestrickten Pullover vor, der aufgrund seiner Größe wohl eher einem muskulösen Herren passte. Henriette läutete kurzentschlossen an der Nachbarwohnung, in der ein Mann namens Axel Kraftlackl wohnte, der im Schlachthof als Fleischzerleger arbeitete und den sie durchaus gern ein wenig näher kennengelernt hätte. Kraftlackl redete zwar nicht viel, wie Henriette fand, und wenn er etwas sagte, war es selten etwas Tiefschürfendes, aber der Gedanke, vom nackten Bilderbuchkörper des Nachbarn einmal gehalten zu werden, sagte Henriette doch einigermaßen zu, wie sie sich insgeheim eingestehen musste. Der Pullover erfüllte die ihm zugedachte Funktion als Türöffner und Eisbrecher perfekt. Kraftlackl war zwar erstaunt über den unerwarteten Besuch, nahm das Kleidungsstück aber gern als Geschenk an und streifte es, nachdem er für ein paar Augenblicke seinen Oberkörper freigemacht hatte, sofort über. Der Pullover passte wie angegossen. Henriette riet Kraftlackl, das gute Stück die ganze Nacht zu tragen, weil es wegen der Magie, aus der es entstanden sei, Bärenkräfte verleihe, die er, Kraftlackl, bei der Arbeit im Schlachthof sicher gut gebrauchen könne. Kraftlackl versprach es und lud Henriette zum Dank auf einen Jägermeister ein. Während sie worgkarg tranken, betrachtete Henriette die vielen Wurstbilder an der Wand, die das Nahrungsmittel im Ganzen und aufgeschnitten in vielerlei Facetten zeigten. Nach einem weiteren Jägermeister bat Kraftlackl Henriette darum, dass sie nun wieder ginge. Er würde zwar schon gern mit ihr schlafen, gestand er, er müsse aber am folgenden Morgen früh heraus und wenn er sich bei der Liebe zu sehr verausgabte, dann würde er in der Frühschicht womöglich die Rinderhälften schlampig zersägen und das könne schließlich niemand wollen. Henriette, die sich immer wieder den Moment in Erinnerung rief, in dem sie Kraftlackls Oberkörper kurz nackt gesehen hatte, äußerte Verständnis und zog sich in ihre Wohnung zurück. Am nächsten Morgen klingelte es zeitig an ihrer Tür. Sie öffnete verschlafen. Draußen stand ein völlig übermüdeter Kraftlackl, dessen Gesicht faltendurchfurcht war und der schwarze Ringe unter den Augen hatte. Er hielt Henriette den akribisch zusammengelegten Pullover hin und bat sie, ihn zurückzunehmen. Er habe ihn die ganze Nacht getragen, erklärte er, das verdammte Ding habe aber so sehr gekratzt, dass er kein Auge zugetan hätte. Ihm sei kalt und er sei so müde, dass er in der Arbeit angerufen und sich für diesen Tag krank gemeldet hätte. Henriette erwiderte, dass es ihr leid täte. Sie hätte ihm bloß eine Freude machen wollen. Das könne sie jetzt immer noch, entgegnete Kraftlackl, wenn sie ihn unter ihre Bettdecke schlüpfen lasse und ihn ein wenig wärme. Henriette nickte und bat ihn hinein. Nachdem sie sich vollständig entkleidet hatte, steckte sie den Pullover in den Kanonenofen. Dann hob sie ihre Bettdecke, so weit es ging, nach oben, damit Kraftlackl bequem darunterschlüpfen konnte.
Michael, 7. August 2020
Finnische Tangomusik!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 😉
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