Zu Birngrubers bevorstehendem 65. Geburtstag gestaltete der staatliche Rundfunk auf seinem Kulturfernsehkanal eine Sondersendung des literarischen Nachtstudios, in die der Jubilar als Ehrengast eingeladen wurde. Nach der Anmoderation und der Begrüßung durch den Moderator Apfelmoser genoss Birngruber, selig in einem schweren Lederfauteuil versunken, den Porträtbeitrag, den die Redaktion vorbereitet und zusammengestellt hatte und der die wichtigsten Fakten aus Birngrubers Leben für die Fernsehzuschauer zusammenfasste. Schon bei seinen ersten literarischen Gehversuchen, hieß es in dem Bericht, habe Birngruber sein Thema gefunden: Seine Hodenentzündungen, wie seiner interessierten Leserschaft ja allseits bekannt war. Sein erster Gedichtband hätte seine Hodenentzündungen in rigid gebauten Versen lyrisch abgehandelt; aufgrund der spröden Exotik des Themas hätte das sogenannte breite Publikum die Publikation aber bloß durch den Erwerb von gerade einmal vier Exemplaren zur Kenntnis gekommen; die Literaturkritik hingegen hätte damals schon geahnt, welches Potential in Birngruber schlummerte. Die folgenden vier Kurzprosabände über seine Hodenentzündungen hätten Birngruber dann in der Reihe der hoffnungsvollsten Newcomer im Literaturzirkus in die vorderen Ränge katapultiert. Sein erster abgeschlossener Hodenentzündungsroman sei dann immerhin im renommierten Reißwolfverlag erschienen; Birngrubers Hodenentzündungsdrama „Testiculus“ habe dann bei den Bad Schnarchsackener Kammertheaterfestspielen einen Achtungspreis erreicht und sei fast zweimal aufgeführt worden. Danach sei es steil bergauf gegangen. Birngrubers groß angelegte Romantetralogie „Im Bann des Orchis“ hätte vom ersten Band an eingeschlagen wie die sprichwörtliche Bombe. Die Verkaufszahlen im deutschen Sprachraum hätten ihresgleichen gesucht, und als schließlich Übersetzungen in mehr als 30 Sprachen vorgelegen hätten, sei auch das Nobelpreiskomitee aufgrund seines wachsenden Ruhmes auf Birngruber aufmerksam geworden und hätte ihm im vergangenen Jahr schließlich den Preis der Preise verliehen, den Nobelpreis für Literatur. Als nach dem Ende des Beitrags der Moderator Apfelmoser das Wort live an den glücklich grinsenden Birngruber richtete und ihn fragte, wie es auf dem Gipfel des literarischen Ruhms mit ihm denn nun weiterginge und welche Pläne er für seine Zukunft hätte, räusperte Birngruber sich vielsagend, ehe er sich zu erklären begann. „Ich habe“, sagte er, „eine durchaus bedeutsame Ankündigung zu machen, was mein literarisches Schaffen betrifft. Ich werde demnächst 65 und habe auf dem Gebiet meiner Hodenentzündungen literarisch alles gesagt, was vom meiner Seite zu diesem Thema zu sagen war. Aus diesem Grund werde ich dem Schreiben vollständig entsagen und mich anderen Aufgaben zuwenden.“ „Das heißt also“, hakte der Moderator Apfelmoser nach, „dass Sie der Kunst- und Kulturszene vollständig verloren gehen werden und es anderen überlassen, ihr Orchideenthema weiter zu beackern?“ „Keineswegs“, widersprach Birngruber. „Ich wechsle lediglich die Kunstsparte. In Zukunft werde ich mich der Malerei widmen und meine Hodenentzündungen mit malerischen Mitteln darstellen.“ Als der Moderator sich aus lauter Schreck über diese Ankündigung übergab und dies zu verbergen suchte, indem er sich diskret seine Moderationskarten vor den Mund hielt, erwachte Birngruber schweißgebadet und fand sich in seinem Bett liegend in der Realität wieder. Erleichtert stellte er fest, dass er wieder erst 35 Jahre alt war und kein berühmter Schriftsteller. Zur Sicherheit fasste er sich ans Gemächt und stellte prüfend fest, dass dort nichts entzündet oder geschwollen, sondern vielmehr alles in bester Ordnung war. Dass dies durchaus von Vorteil war, wurde ihm freudig bewusst, als ihm einfiel, dass am folgenden Abend seine Frau nach einem mehrwöchigen Kuraufenthalt im Ausland nach Hause zurückkehren würde.
Michael, 11. September 2020.