Das ganze Jahr trank Heiner fast keinen Alkohol. Zu Herbstbeginn bestellte er sich einen Vogelbeer-Schnaps, den sein Vater liebend gern getrunken hatte. Damit glaubte er nicht ganz zu unrecht so etwas wie Familientradition bewahren zu können. Die Lieferung kam am Dienstag und gegen Abend öffnete er fast andächtig die Flasche. Diese war sehr teuer und das Etikett unterstrich den edlen Charakter. Der Duft strömte durch die Küche, als er das große Riedel-Stamperl füllte. Er nippte zuerst, seufzte, genoss und trank dann einen Schluck. Es war schlichtweg eine Offenbarung, eine Explosion, er begeisterte sich immer mehr. Als das erste Stamperl leer war, wollte er bereits die Flasche in den Keller tragen. Schließlich hatte er den Vorsatz, mit dem Inhalt den Winter zu überdauern. Ein zweites Stamperl würde die Flasche jetzt auch nicht leeren und so machte er vor der Kellertür halt. Der Schnaps zerrann förmlich auf der Zunge, brannte nur kurz und hinterließ diesen unverwechselbaren Geschmack. Nachdem das Stamperl wieder leer war, versuchte er erst gar nicht, die Flasche in den Keller zu bringen. Aller guten Dinge wären schließlich drei. Warum er Nummer Vier trotzdem getrunken hat, konnte er im Nachhinein wie bei Nummer Fünf und Sechs nicht mehr feststellen. Bei Sieben dachte er an die Vollkommenheit und so fühlte er sich in diesem Stadium bereits. Bei Nummer Zwölf kamen ihm die Apostel und Jesus in den Sinn. Heiner glaubte nun, in sich selbst den perfekten Anführer zu erkennen. Sie würden ihn lieben, ihm zu Füßen liegen, er würde das Volk führen. Die Flasche war fast leer und er wollte nun ins Bett gehen, es war doch schon spät geworden. Seine Fantasie steigerte sich immer mehr, er spürte die unermessliche Größe. Heiner, Heiner, er brauchte einen neuen Vornamen, idealerweise prägnant in der Abkürzung. Als er die Küchentür öffnete, wusste er nicht, warum er sich noch einmal umdrehte. Die Flasche schien ihn anzulachen, ihn herauszufordern. Ein letztes Mal, dachte er sich, diese Nacht würde alles verändern. Die Nummer Dreizehn war im Nachhinein betrachtet ein großer Fehler, hier hatte der Falsche seine Hände im Spiel. Er wurde gefragt, ob bereit sei, für den Erfolg, für Geld, für die absolute Macht. Ja war seine Antwort, der Pakt geschlossen und die Seele verkauft. Er hatte das Gefühl, dass er die Treppen hinauf schweben würde, ein neuer Messias. Die Nacht verlief ruhig, als er plötzlich am Morgen eine Polizeisirene hörte. Was er denn mitten im Ortszentrum nackt auf dem Vogelbeerbaum machte, wurde er gefragt. Er sah vom Baum herunter und es hatte sich bereits eine beträchtliche Menschenmenge versammelt. „Wir müssen wieder die österreichischen Grundwerte transportieren“, schmetterte er mit leicht angeschlagener Stimme hinunter. Das Volk staunte und einige applaudierten. Die Polizei musste dem ein Ende bereiten und befahl ihm, vom Baum herunterzukommen. Er naschte noch von den Vogelbeeren und meinte, dass es keine gute Entwicklung sei, wenn immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um arbeiten zu gehen. Beim Versuch vom Baum zu klettern, rutschte er ab und landete etwas unsanft am Boden. Als das taufrische, grüne Gras durch das blaue Einsatzlicht des Polizeiautos türkis erschien, wusste er ganz sicher, dass ihm eine große politische Zukunft bevorstehen würde. Als er lange Zeit später verzweifelten Menschen helfen wollte, erinnerte ihn Mephisto an den einst geschlossenen Pakt und in dieser Nacht musste er zum ersten Mal weinen.
Harald, 18. September 2020