„Du bist völlig beziehungsunfähig!“, schrie sie mal wieder. August hatte diesen Satz schon tausendmal gehört. Immer, wenn er nicht ihrer Meinung war, dann wurde er damit bedacht, immer, wenn er mal seine Ruhe brauchte, allein sein wollte, immer wenn er sich mit Freunden treffen wollte, immer wenn er ihre Mutter auch nur ansatzweise für ihr angriffiges Verhalten zurechtwies. Nach all den Jahrzehnten glaubte er bereits selber tatsächlich, beziehungsunfähig zu sein. Dieser Glaubenssatz hatte sich eingeschlichen, er hatte nicht wirklich darüber nachgedacht. In der Arbeit kam er zwar gut mit den Kollegen und Kolleginnen aus, auch der mittlerweile erwachsene, gemeinsame Sohn beschwerte sich nie über zu wenig Liebe oder Zuneigung, im Gegenteil suchte er auch noch heute oft den Kontakt zu ihm und meist gingen sie einmal in der Woche gemeinsam Mittagessen oder trafen sich abends in einem Lokal. Es war an einem Donnerstag, als sie in einem netten Innenstadtlokal ein Glas Wein tranken. Der Sohn studierte mittlerweile Mathematik und berichtete von der Riemannschen Vermutung, die er beweisen wollte, weil dafür eine Million Dollar vom Clay Mathematic Institute in Cambrigde ausgelobt wurde. August bekräftigte ihn dabei und bewunderte diese Zielstrebigkeit. Er führte gerade einige Details aus, als zwei Frauen das Lokal betraten und die jüngere davon meinte, dass die Vermutung von Hodge vermutlich leichter zu beweisen wäre und er doch umsteigen sollte. Beide schauten kurz verdutzt die junge Dame an und sein Sohn verwickelte sie sofort in ein Gespräch. August fand schnell heraus, dass die ältere Frau die Mutter war, wobei älter relativ schien, da sie 41 Jahre alt war und August doch den Sechziger vor einem guten Jahr überschritten hatte. Das Alter gab sie übrigens nach einem Kompliment von August sofort Preis und auch sonst war sie völlig ungezwungen. Sie hatte in frühen Jahren bereits die Tochter bekommen und hatte sie nach Schwierigkeiten in der Beziehung über weite Strecken alleine großgezogen. Auch die letzte Partnerschaft war gescheitert, da – so der Vorwurf ihres Ex – sie völlig beziehungsunfähig wäre. Er musste dabei laut Lachen und erzählte, dass auch er einer von dieser Sorte ist. Der Abend dauerte lange und Agnes und August verließen das Lokal kurz vor Mitternacht, während sein Sohn und ihre Tochter noch weiter tief in mathematische Rätsel vertieft waren. Als August heimkam, machte seine Frau ihm eine Szene, schließlich könnte sie alleine nie tief schlafen und das machte er wohl absichtlich, beziehungsunfähig eben. August traf in den nächsten Monaten Agnes sehr oft. Sie verbrachten Nachmittage bei herbstlichen Spaziergängen, genossen die herabfallenden Blätter, die schwächer werdende Sonne. Es war eine Affäre. August fühlte sich dabei großartig. Agnes machte ihm keinen Druck, wann er wieder Zeit hätte, Agnes schlief auch alleine perfekt, sie lies ihm Freiräume, genoss dann seine Anwesenheit umso mehr. Nach acht Monaten trennte er sich von seiner Frau, sein Sohn, der Agnes Tochter noch regelmäßig traf, hatte Verständnis, seine Frau dafür naturgemäß weniger. Es war eine Trennung mit vielen heftigen Szenen, Wut, auch Verachtung. August war sehr froh, als die Scheidungspapiere unterschrieben waren. Das Haus hatte er los, er kam ihr sehr großzügig entgegen, selbst sein Auto konnte sie behalten. August und Agnes kauften kurze Zeit später eine gemeinsame Wohnung in der Stadt, er hatte vor diesem Schritt große Angst, da er seine Beziehungsunfähigkeit immer noch im Hinterkopf hatte. Agnes konnte ihn schnell beruhigen, sie hatte nichts dagegen, wenn er seinen Kaffee alleine oder mit jemand anderen im Lieblingscafé trinken wollte, selbst wenn er seine Ex-Frau manchmal besuchte, hatte sie damit überhaupt keine Probleme. Sie waren einfach nur glücklich, er konnte es teilweise gar nicht fassen und der Altersunterschied schien beide herzlich egal zu sein. Ehemalige Freunde teilten sich auf, seine Ex-Frau berichtete auf ihrer Seite, wie sie doch froh wäre, dass dieser beziehungsunfähige Trottel endlich das Weite gesucht hatte. August war anders, nicht nachtragend, sondern schätzte die gemeinsamen Jahre und war sehr stolz, dass diese Beziehung den mathematisch begabten Sohn hervorgebracht hatte. Beruflich lief es plötzlich auch viel besser. Er wurde mit 63 Jahren in den Vorstand berufen. Bei der Bestellung hatte der Vorstandsvorsitzende nicht nur die tollen Leistungen erwähnt, sondern vor allem auf die vielen guten Beziehungen, die August im Laufe der Jahre im Unternehmen aufgebaut hatte, hingewiesen. August musste innerlich lächeln, bestellte sich daraufhin einen Tesla und begann einen Yoga-Kurs mit Agnes. Er fühlte sich so fit und beziehungsfähig wie noch nie in seinem Leben.
Harald, 8. Oktober 2020
Ich mag August.
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