Blau-Weiß-Rot

Schwemmer, der im Verlauf seiner Ehe mit seiner Frau immer nur auf dem selben Campingplatz in Kroatien geurlaubt hatte, wagte sich nach ihrem plötzlichen Tod zum ersten Mal auf einen anderen Kontinent und flog nach Kuba. Er hatte ein Hotel gebucht, in dem er die gesamten drei Wochen seines Aufenthalts bleiben wollte. Auf eine Rundreise hatte er bewusst verzichtet, weil er fürchtete, dass zu viele neue Eindrücke und ständige Ortswechsel ihn nach all dem, was er gerade durchgemacht hatte, heillos überforderten. Unmittelbar nach seiner Ankunft im Hotel und dem Bezug seines Zimmers begab er sich hinunter auf die großzügig dimensionierte Anlage, die direkt am Meer lag. An einem der lichtblauen Schwimmbecken reservierte er sich einen Liegestuhl und bestellte sich an der Poolbar einen Mojito, der schnell Wirkung zeigte und Schwemmer, der seit dem Abflug in Europa nichts mehr gegessen hatte, angenehm zu Kopf stieg. Er genehmigte sich gleich noch einen weiteren Drink und erreichte dadurch mühelos einen Zustand, in dem er sich unglaublich leicht vorkam und nicht an seine verstorbene Frau denken musste. Schwemmer stieg in den Pool und stützte sich mit angewinkelten Unterarmen am Beckenrand ab und dachte sich im Stillen, dass das Leben so, wie es sich ihm in diesem Augenblick präsentierte, eigentlich herrlich war. Aber schon im nächsten Moment wurde er durch eine kurvige Blondine, die ihm auf die Schulter tippte, aus seinen entspannenden Reflexionen gerissen. „Entschuldigen Sie“, sagte sie. „Sind Sie nicht dieser bekannte Philosoph?“ Ohne eine Antwort abzuwarten ließ sie sich neben ihm ins Wasser sinken und stützte sich ebenfalls am Beckenrand ab. „Ich heiße Schwemmer“, sagte der Angesprochene und hielt der Blondine seine Rechte hin, die sie sanft zur Seite schob. Sie begrüßte ihn, indem sie ihn umarmte und auf beide Wangen küsste. „Schwemmer“, wiederholte die Blondine. „Genau das meine ich doch. Sie sind der Philosoph Schwemmer. Ich kenne Ihr Gesicht aus der Regenbogenpresse.“ „Ich gebe es ja zu“, sagte Schwemmer mit schwerer werdender Zunge. „Sie kenne ich aber auch“, fügte er hinzu. „Sie sind doch diese berühmte Schauspielerin. Greta Thunfisch, oder?“ „Sie haben es erraten“, bestäigte die Blondine. „Genau die bin ich.“ „Es ist schön“, ergänzte sie, „wenn man im Urlaub auf verwandte Seelen trifft. Ich liebe übrigens die Philosophie! Worüber denken Sie gerade nach?“ „Ich beschäftige mich gerade“, log Schwemmer, „mit urbanen Entschleunigungskonzepten.“ „Urbane Entschleunigungskonzepte?“, wiederholte die Blondine. „Das klingt aber lustig. Darauf sollten wir einen trinken.“ Schwemmer nickte heftig und stieg aus dem Wasser. Die Blondine folgte ihm an die Bar. Sie unterhielten sich weiterhin blendend auf sehr niedrigem Niveau. Nach einigen weiteren Mojitos gestand Schwemmer, dass er gar kein bekannter Philosoph sei, sondern ein völlig unbedeutender Gerichtsvollzieher. Das mache überhaupt nichts, erwiderte die Blondine, sie heiße ja auch gar nicht Greta Thunfisch und sei auch keine Schauspielerin, sondern Fernfahrerin. Sie trage beim Flirten immer gern ein wenig dicker auf. Solange diese bewährte Methode den gewünschten Erfolg brächte, sei ja wohl nichts dagegen einzuwenden. Schwemmer, der das blau-weiß-rote Muster des Bikinis der Blondine die ganze Zeit über aufmerksam studiert hatte, wurde plötzlich klar, dass es gar nicht der kubanischen Nationalflagge nachempfunden war, wie er zuerst gedacht hatte, sondern der kroatischen. Er unterdrückte die aufkommende Wehmut, indem er abwechselnd tapfer weiter redete und zuhörte.

Michael, 9. Oktober 2020

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