Brautschau

Joachim, der in nicht allzu ferner Zukunft den väterlichen Sargtischlerbetrieb übernehmen sollte, wagte sich unmittelbar nach Erreichung seiner Volljährigkeit ohne feste Begleitung zum ersten Mal auf den alljährlichen Ball der Totengräber- und Bestatterinnung, der als besonders lustig und als Höhepunkt der Saison galt. Obwohl seine Kenntnisse der lateinamerikanischen und klassischen Tänze auf dem Rudimentären beruhten, das er viele Jahre zuvor im Kindergarten erlernt hatte, wagte er sich an die vorderste Front und platzierte sich am Rand der Tanzfläche im großen Saal, in der Hoffnung, dass ihn eine aufforderte, sobald das nächste Mal Damenwahl war. Sein Wunsch ging nicht in Erfüllung. Joachim stärkte und tröstete sich an der Bar mit ein paar klaren Schnäpsen und beschloss, den Spieß umzudrehen, indem er selbst eine zum Tanzen aufforderte. Er suchte sich das schönste Mädchen im Saal und erfreute sich eine Weile an ihrem Anblick. Es war Adele, die er auch schon seit der gemeinsamen Zeit aus dem Kindergarten kannte und die damals aus lauter Hochnäsigkeit kein Wort mit ihm gewechselt hatte. Sie war eine stattliche junge Frau geworden, die mit ihren Rundungen, die durch ihr Ballkleid noch vorteilhaft betont wurden, einer Vielzahl von jungen Männern im Saal die Köpfe verdrehte. Besonders gefiel Joachim ihr bildhübsches Gesicht, dessen Teint ihn von der Farbe her an eine Wasserleiche erinnerte, was aber im Bestattergeschäft, dem er sich in jeder Lebenslage zugehörig fühlte, eher als ein Vorteil denn als ein Makel galt. Er trat auf Adele zu und bat sie mit fester Stimme und einer so unwiderstehlichen Souveränität um den nächsten Tanz, dass sie nicht ablehnen konnte. Adele, die sich noch genau erinnerte, wie herablassend sie Joachim damals im Kindergarten behandelt hatte, war in der Zwischenzeit allerdings zu Ohren gekommen, dass er in absehbarer Zeit den väterlichen Betrieb erben würde und dass einer wie er in seinem krisensicheren Gewerbe eine ausgezeichnete Partie war. Sie nahm seinen Arm. Gemeinsam begaben sie sich in Position für den nächsten Tanz. Es war ein Walzer. Weil all die Paare in ihrer Nähe linksherum zu tanzen begannen und er nicht negativ auffallen wollte, blieb auch Joachim nicht anderes übrig, als sich am Linkswalzer zu versuchen, was allerdings für einen, der keine Ahnung vom Tanzen hatte, nur in eine Katastrophe münden konnte. Adele merkte schon nach wenigen Schritten, welche Schmach sich da anbahnte und übernahm geistesgegenwärtig so geschickt die Führung, dass sie den Linkswalzer tadellos zu Ende brachten. Joachim, der über alle Maßen dankbar war, sagte Adele, dass er tief in ihrer Schuld stände und dass sie sich etwas von ihm wünschen dürfe. Insgeheim hoffte er, dass sie sich wünschte, dass er sie nach dem Ball nach Hause begleitete. Zu seiner Enttäuschung wünschte Adele sich etwas ganz anderes, nämlich, dass er, Joachim, bei der großen Tombola ein Los kaufte und seinen Gewinn ihr, Adele, überließ. Er erstand bei einer der Marketenderinnen, die mit Bauchläden den Saal durchquerten, ein Los und machte sich gleich auf den Weg ins Foyer, um sich seinen Gewinn abzuholen. Nur wenig später, als er zu Adele zurückkehrte, fragte sie ihn, was es denn sei, was er für sie gewonnen hätte. Etwas, das sie sicher gut gebrauchen könne, rief Joachim freudestrahlend und überreichte Adele eine riesige Flasche Mundwasser. Ob er denn den Eindruck hätte, dass sie aus dem Mund stänke, rief Adele völlig aufgebracht, oder was es sonst für einen Grund geben könnte, ihr etwas derartig Hirnverbranntes zu schenken? Sie wartete die Antwort des verdatterten Joachim gar nicht erst ab, sondern nahm die Flasche und ließ sie ungerührt auf dem Tanzparkett zerschellen. Joachim, der sich noch schlechter fühlte als seinerzeit im Kindergarten, ließ Adele wortlos stehen und fuhr heim. Wenige Tage später lernte er auf dem Geburtshelferball eine junge Hebamme kennen, die er nach Hause begleiten durfte und die später seine Frau wurde.

Michael, 23. Oktober 2020.

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