Kein Chef

Die Beziehung zu seinen Chefs war immer etwas angespannt. In den ersten Berufsjahren glaubte Gernot, dass es nur an den jeweiligen Führungskräften lag. Diese waren zu autoritär, hatten zu wenig Vertrauen, es mangelte ihnen an Fachwissen, kannten sich mit Führung nicht aus und waren großteils Narzissten. Als bereits sein fünfter Chef nach mehrmaligen Jobwechsel immer noch der gleiche Typ war, begann Gernot ganz vorsichtig mit etwas Selbstreflexion. Sein Vater war eher autoritär und hätte vielleicht manchmal etwas weniger hart sein sollen. Gernot selbst wäre sowieso lieber Rockstar geworden, hatte aber weder die Stimme noch das musikalische Talent, sondern nur den Lebensstil dazu. „Wer ist dieses Mädchen neben mir!?“, fragte er sich nicht nur einmal früh am Morgen um 15.00 Uhr. Im Büro wurde es über die Jahre immer langweiliger. Es wurden Kosten gespart, Umsätze erhöht, Timelines verkürzt, Kreativität gekillt, Schönsprech eingeführt und das echte Leben ausgeklammert. Gernot erkannte nach mehren verschiedenen Coachings, dass seine Werte andere waren. Freiheit und gegenseitiger Respekt konnte er in seiner bisherigen Berufslaufbahn zu wenig leben. Dieses Einengende, Luftabschnürende, Niederdrückende, Kontrollierende war dafür einfach zu präsent. Respekt wurde nicht nur einmal mit Füßen getreten. Er musste etwas ändern, da auch privat das Leben in immer mehr geregelte Bahnen geriet. Er verdiente viel Geld, fuhr ein schönes Auto und besaß eine große Wohnung etwas außerhalb der Stadt. Als auch dann noch aufgrund einer Pandemie alle Menschen wirklich alles taten, was ihnen von oben vorgegeben wurde, nur um nicht zu erkranken und die Freiheit völlig am Boden war, handelte er. Er kündigte seinen Job und spürte seit Ewigkeiten wieder den Wind der Freiheit und Veränderung. Seine türkis-grüne Maske schmiss er ihn den Müllkübel, da sie völlig unbrauchbar war. Bereits als er das Unternehmensgebäude verlassen hatte, spürte er, wie sich sein Körper aufrichtete. Die Ansprachen einiger frustrierter Landes- und Bundespolitiker konnte er ab diesem Zeitpunkt auch nicht mehr sehen, da sein Flatscreen den Sturz vom 2. Stock auf den Innenhof wie erwartet nicht überlebt hatte. Er fand einige illegale Lokale, die auf contact tracing verzichteten, da alle Anwesenden zum Glück wussten, dass sie etwas zu verbergen hatten und richtig krank würden sie andere Dinge machen. Es war wie eine neue Welt, eine Welt von Gescheiterten, von Versuchen, von Niederlagen, auch von Erfolgen, von Ankommenden, von gegenseitigem Respekt. Eine Welt, die echte Gefühle zulässt, die Perfektion nicht erstrebt, die Krummheiten liebt, das richtige Leben. Gernot sprach schon länger mit einer Frau, die er wie jeden Donnerstag im „Checker“ getroffen hatte. Sie schauten sich diesmal länger in die Augen, als die Platte aufgelegt wurde:

„Ich hab‘ kein Chef und kein Büro, was will ein wildes Tier im Zoo, ich hab das Spiele spielen satt, ich bin am Zug, ihr seid schachmatt….“, grollten beide tanzend lautstark in den Armen liegend mit. Das war es, endlich wieder die alten Ärzte, subversiver Widerstand, zumindest Nachdenken, Revolution, wenn es denn sein muss. Gernot küsste sie leidenschaftlich, auf den infantilen, leicht pädophil anmutenden Babyelefanten geschissen. Gernot hatte es wieder, er hatte die alten Ärzte, er hatte wieder sein „wildes Leben“ und was habt ihr?

Harald, 23. Oktober 2020.

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