Dankopfer

Mit meinem Freund Nikolaus saß ich auf einer steil abfallenden Bergwiese in der Nähe der beiden Barmsteine in den Berchtesgadner Alpen, auf der deutschen Seite der Grenze. Nikolaus meinte, dass es eine gute Gelegenheit wäre, um den Göttern dafür zu danken, dass er von einer schweren Krankheit genesen war. Obwohl ich nicht an Götter glaubte, stimmte ich ihm zu. Es könne nie schaden, den Göttern zu danken, rief ich, auch wenn sie vielleicht gar nicht existierten. Er habe jedenfalls schon etwas vorbereitet, erwiderte Nikolaus. Er zog ein Stövchen aus seinem Rucksack, das in seinem Boden mit einer Batterie versehen war, die als Energiequelle für die Erwärmung von Opfergaben diente. Er stellte das Gerät auf einen Stein, der aus dem Wiesenboden ragte, und schaltete die Heizvorrichtung auf kleiner Stufe ein. Mir drückte er ein Schneidbrett und ein Küchenmesser in die Hand. Ich erlaubte mir die Frage, ob er etwas kochen oder den Göttern ein Opfer bringen wolle. Das eine schließe das andere nicht aus, erwiderte Nikolaus. Die Götter, die für dieses Fleckchen Erde zuständig seien, seien wahre Feinschmecker und wüssten vorzügliches Gemüse sehr zu schätzen. Er hielt mir einen Stangensellerie hin und bat mich, diesen zu zerkleinern. Ich kam seinem Wunsch bereitwillig nach. Dem folgten ein Bierrettich und ein paar Möhren, die ich ebenfalls kleinschnitt. Nikolaus goss ein wenig Öl auf den Boden des Stövchens, fügte das von mir geschnittene Gemüse hinzu und erhitzte es, bis es gar war. So mögen es die Götter, sagte er und hielt mit dem Pfannenwender eine Kostprobe in die Luft. Wir staunten nicht schlecht, als plötzlich aus dem Nichts ein Faun materialisierte, der sich uns als ein Bote der Götter vorstellte. Nichts gegen unsere Bemühungen, sagte er, aber die Götter seien das ewige Gemüse leid. Es käme stets von Herzen, wenn sie jemandem dabei halfen, dass er eine schwere Krankheit überwand; sie wären aber wenigstens einmal gern mit einem anständigen Fleischgericht belohnt worden. Weil Nikolaus nichts anderes mehr dabei hatte, überließ ich dem Faun meine Wurstsemmeln. Seine Augen strahlten. Die Götter wüssten derlei sicher zu schätzen, bemerkte er, und sorgten gewiss dafür, dass auch ich nicht krank würde. Dann dematerialisierte er. Nikolaus reichte mir eine Gabel, damit ich meinen Anteil an dem Gemüse aus dem Stövchen verzehren konnte. Was für ein Leben, sagte ich kauend zu Nikolaus, wie Gott in Berchtesgaden! Er nickte und machte ein fröhliches Gesicht.

Michael, 30. Oktober 2020

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