Doppelklick

Weil ich nicht einschlafen kann, klemme ich mir eine kabellose Computermaus unters Kinn und halte auf dem Rücken liegend die Luft an, bis der Schlaf mich endlich doch übermannt. Ich lande im Traum auf einer saftigen Wiese, auf der in einiger Entfernung eine Schafherde grast. Der Hirte, der für meine Begriffe merkwürdig altertümlich gekleidet erscheint, liegt schnarchend unter einer Buche. Ich wecke ihn unsanft und frage ihn, wo ich gelandet bin. „Das weiß ich doch nicht“, brummt er unwirsch und reibt sich die Augen. „Lies doch einfach, was auf dem Schild dort steht.“ In der Richtung, in die der Hirte weist, sehe ich ein Schild mit der Aufschrift: Saftige Schafweide im 18. Jahrhundert. „Dafür, dass du mich geweckt hast, schuldest du mir etwas!“, ruft der Hirte. „Was ist das eigentlich für ein seltsames Ding, das du dir unters Kinn geklemmt hast?“ „Das ist bloß eine Maus“, erwidere ich. „Warum fragst du?“ „Ich will das Ding haben!“, ruft der Hirte. „Sofort!“ „Meine Maus bekommst du nicht!“, entgegne ich und ziehe sie unter meinem Kinn hervor. „Computermäuse gehören nicht ins 18. Jahrhundert.“ Der Hirte will nicht locker lassen und stößt plötzlich einen scharfen Pfiff aus. Drei Schafböcke lösen sich aus der Herde und rennen mit gesenkten Hörnern auf mich zu. „Das Ding her“, befiehlt der Hirte, „oder sie rammen dich!“ „Nie im Leben!“, kontere ich und doppelklicke die heranstürmenden Böcke mit meiner Maus. Sofort sind die drei Angreifer verschwunden. „Wie hast du das gemacht?“, ruft der Hirte fassungslos. „Du bist ein Hexer! Wir werden dich verbrennen!“ Ich klicke den Hirten auch noch weg und lege mich an seiner Statt auf seinen Schlafplatz unter der Buche. Die Maus klemme ich mir wieder unters Kinn und schlafe diesmal sofort ein. Als ich wieder geweckt werde, liege ich immer noch unter dem Baum auf der Wiese. Vor mir sehe ich eine schöne junge Frau. „Du bist wohl eingenickt“, sagt sie. „Dabei wirst du hier gebraucht.“ „Ich werde gebraucht?“, wiederhole ich erstaunt. „Ja“, sagt die Frau. „Du bist doch hier der Schäfer.“ Ich mustere mich selbst und stelle fest, dass auch ich nun die Kleidung eines Hirten trage. „Wenn ich der Schäfer bin“, sage ich zu der Frau, „wer bist dann du?“ „Dass du mich nicht erkennst“, lacht die Frau, „verwundert mich. Ich bin doch deine Schäferin.“ „Dann will ich dich sofort erkennen!“, rufe ich. „Du musst mich fangen“, ruft die Frau, „damit du mich ausziehen kannst. Ich warne dich. Ich laufe sehr schnell.“ „Ich habe eine bessere Idee!“, sage ich, schnappe die Maus und doppelklicke der Schäferin die Kleidung vom Leib. „Wie hast du das gemacht?“, fragt die nackte Schäferin verwundert. „Du kannst es auch“, sage ich lächelnd und reiche ihr die Maus. Mit einem Doppelklick entkleidet sie auch mich und legt sich neben mich. Für das nachfolgende Schäferstündchen benötigen wir die Maus nicht mehr, sondern verlassen uns ganz auf unsere eigenen Fähigkeiten. Wir lieben uns voller Leidenschaft und Hingabe. Ich empfinde es als so angenehm, dass ich beschließe, unter dem Baum auf der Wiese bei der Schäferin zu bleiben und nicht mehr aufzuwachen.

Michael, 6. November 2020

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