Es ist ja nicht so, dass er sich die Frage, ob das alles richtig ist, nicht schon mal gestellt hätte. Mit 54 Jahren, sitzend im Wartesaal der Entbindungsstation. Bei seinen mittlerweile zwei volljährigen Söhnen war er bei der Geburt nicht anwesend. Aber das scheint heutzutage so üblich zu sein, dass der Vater dem freudigen Ereignis beiwohnt. Er sollte eigentlich auch schon im Kreissaal sein. Hätte er das früher gewusst, es wäre wohl anders gekommen. Die WG, die Partys, das war noch lustig. Was sind auch schon 31 Jahre Altersunterschied. Er, der mit über 50 meinte, er müsste nochmals studieren, saß jetzt also da, die Schultern nach unten hängend und mit starrem Blick. Die Scheidung kostete Geld samt Nerven und einer der Söhne hatte seit dieser kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Seine Freundin war hübsch, er immer noch gut situiert, aber jetzt spürte er auch noch ein Drücken auf der Brust. Die Prüfung auf der Uni zweimal vergeigt, keine richtige Motivation mehr, was bringt auch Friesische Philologie überhaupt. Windelwechseln, nicht durchschlafen können, später noch Schule und Pubertät. Nein, darauf hatte er absolut keine Lust. Er würde sich wieder mehr der Firma widmen, das Studium aufgeben und zu seiner Frau, die im Übrigen ihm jetzt sowieso auch noch attraktiver denn je erschien, zurückkehren. Er rannte die Treppen des Krankenhauses hinunter, stieg in das nächste Taxi und fuhr heim, heim wie früher. Er läutete mehrmals. Er hörte Schritte und Dr. Nutzer öffnete ihm die Tür. Der Scheidungsanwalt würde hier wohl nicht die letzten, rechtlichen Details klären. Keine zehn Sekunden später kam seine Ex-Gattin mit dem ähnlich verliebten Blick wie Dr. Nutzer und lud ihn auf einen Kaffee ein, begleitet von einem innigen Kuss der beiden und der Bemerkung, dass er Matthias wohl schon kennen würde. Er lehnte die Einladung dankend ab und zwang den Taxifahrer mit weit überhöhter Geschwindigkeit zurück zum Krankenhaus zu fahren. Dort ging alles gut und er wurde Vater einer Tochter. Zwei Jahre später hatte er das Studium trotz durchwachter Nächte abgeschlossen. Seit zwei Monaten arbeitet er nach einer Vaterschaftskarenz, zu der ihn seine Freundin gezwungen hatte, in Teilzeit am Institut für Frisistik und beschäftigt sich hauptsächlich mit Forschungen zum friesischen Dialekt. In seiner spärlichen Freizeit schreibt er friesische Gedichte, die andere vor folgenschweren Fehlern bewahren sollten.
Harald, 06. November 2020.