Einmal fuhr ich mit dem Schnellzug von Friedrichshafen nach Emden. Weil die Reise einen ganzen Tag dauerte, gönnte ich mir einen Platz in der ersten Klasse in einem komfortablen Sechserabteil. Bis Frankfurt verlief meine Reise ereignislos; meine Mitreisenden waren einheitlich gestylte Geschäftsleute in langweiligen Businessanzügen, mit einander zum Verwechseln ähnlichen Haarschnitten und beinahe identischen Gesichtern. Sie legten alle keinen Wert auf Konversation mit mir, sondern verschmolzen stumm mit ihren Laptops, auf denen sie, begleitet von monotonem Geklapper, haptisch mit der Welt kommunizierten. In Frankfurt, wo im Kopfbahnhof die Fahrtrichtung des Zuges wechselte, hatten wir einen längeren Aufenthalt, während dessen sich plötzlich alles änderte. Die Abteiltür wurde aufgeschoben, ein Mann trat herein, gefolgt von einer Ziege. Der Mann fragte mich höflich, ob noch Platz frei sei. Als ich nickte, verstaute er den Koffer, der er mitgebracht hatte, oben in der Gepäckablage. Die Ziege sprang auf einen freien Sitz und nahm wie ein Mensch auf ihrem Hinterteil Platz und richtete ihren Oberkörper auf. Ich fragte den Mann, ob es nicht ungewöhnlich sei, mit einer Ziege in einem Schnellzug in der ersten Klasse zu reisen. Das hätte alles seine Ordnung, erwiderte der Mann, seine Ziege hätte eine gültige Fahrkarte und wisse sich zu benehmen. Er reise übrigens gar nicht mit, setzte er hinzu, er müsse sich sputen, damit er rechtzeitig wieder hinauskäme auf den Bahnsteig. Er könne aber doch nicht einfach seine Ziege so einfach zurücklassen, warf ich verdattert ein. Der Mann musterte das Tier und stimmte mir dann zu. „Sie sind ein scharfer Beobachter“, konstatierte er. „Etwas Wichtiges fehlt noch.“ Er zog aus seiner Manteltasche ein Schild heraus, das er der Ziege um den Hals hängte. „UN„, las ich laut. „Ihre Ziege arbeitet doch nicht etwa für die Vereinten Nationen?“ „Scherzbold“, kicherte der Mann. „UN steht für Unbegleitetes Nutztier. Eine diskriminierende Vorschrift aus den Fünfziger Jahren.“ Der Mann verabschiedete sich von der Ziege, indem er sie auf beide Wangen küsste. Dann sagte er auch mir Lebewohl und empfahl sich. Wenige Minuten später verließ der Zug den Frankfurter Hauptbahnhof. Da ich gar nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte, rutschte ich unruhig auf meinem Sitz hin und her und musterte verstohlen meine neue Reisegefährtin. „Sie müssen sich keine Sorgen machen“, sagte die Ziege plötzlich. „Ich werde Ihnen keinerlei Unannehmlichkeiten bereiten. Weder ströme ich den für meine Artgenossen so typtischen Geruch aus, da ich vor der Reise selbstverständlich ein Bad genommen habe. Ich meckere auch nicht, da ich auf einen Geißenpensionat in Hannover die deutsche Sprache gründlich erlernt habe. Es besteht auch kein Grund für die Befürchtung, dass ich plötzlich meiner Natur entsprechend ins Abteil kote.“ Sie deutete auf ihre Leibesmitte. „Ich trage eine Windelhose, sehen Sie? Sie hat fast die selbe Farbe wie mein Fell, sehr dezent.“ Mein Mund stand wohl eine Minute lang offen. „Wo fährst du eigentlich hin?“, fragte ich, nachdem ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte. „Ich darf dich doch duzen, oder?“ „Selbstverständlich“, entgegnete die Ziege. „Es fällt Ihnen als Mensch ja erwiesenermaßen leichter, wenn Sie ein sprechendes Tier, das Ihnen in einem Zugabteil gegenübersitzt, duzen. Ich werde aber, wenn Sie erlauben, weiterhin beim Sie bleiben, wie ich es im Geißenpensionat gelernt habe. Ich fahre übrigens nach Kassel, weil ich dort die documenta besuche.“ In diesem Augenblick kam der neue Schaffner, um nach dem Personalwechsel in Frankfurt die Fahrkarten zu kontrollieren. Er nickte, als ich ihm meine bereits entwertete Karte hinhielt. Die Ziege zog ihren Fahrschein aus einer Seitentasche ihrer Windelhose hervor. Auch bei ihr war alles in Ordnung. Der Schaffner fragte uns, ob wir noch einen Getränkewunsch hätten. Die Ziege bestellte sich einen Geißblatttee, ich orderte einen doppelten Himbeergeist. Während wir durch den Taunus fuhren, unterhielten wir uns ein wenig über die documenta. Sie interessiere sich besonders für die Spaziergangswissenschaft, der dort ein Schwerpunkt gewidmet sei, erklärte die Ziege. Im Rahmen von Spaziergängen könne sie ihrer natürlichen Kräuterleidenschaft frönen. Sie sei schließlich, bei aller Bildung, immer noch eine Ziege und wolle als solche weiterhin ihre ziegischen Bedürfnisse befriedigen. Dazu konnte ich sie nur ermuntern. Die Zeit verging wie im Flug. Etwa eine halbe Stunde, ehe wir Kassel erreichten, sagte die Ziege, dass sie nun gern noch eine Unguliküre an sich durchführen würde, falls es mich nicht störte. Wenn sie mir erklärte, was das sei, erwiderte ich, würde ich ihre Frage gern beantworten. Ein Mittelding aus Maniküre und Pediküre, erläuterte die Ziege, eine Klauenpflege also. Ich könne ihr gern behilflich sein und ihr verschiedene Feilen reichen. Ich erklärte mich einverstanden. Mit großer Geschicklichkeit feilte und schliff sie ihre Hufe, die in dem Augenblick, in dem die Durchsage kam, dass wir in wenigen Minuten Kassel erreichten, mit makelloser Gediegenheit glänzten. Die Ziege verstaute rasch ihre Pflegeutensilien (wiederum in einer Seitentasche ihrer Windelhose) und bat mich dann, ihren Koffer vom Gepäcknetz zu heben. Ich kam ihrem Wunsch gern nach und begleitete sie, als wir schon in den Bahnhof einfuhren, hinaus, bis zur Waggontür. Ich wünschte der Ziege einen vergnüglichen Aufenthalt in Kassel und übergab sie in die Obhut eines lokalen Hirten, der sie am Bahnsteig bereits erwartete. Den Rest der Fahrt bis nach Emden verbrachte ich wieder in der öden Gesellschaft einheitlich gestylter Geschäftsleute, die die ganze Zeit in ihre Laptops starrten und nicht ein einziges Wort mit mir wechselten.
Michael, 20. November 2020.
Das ist heute phantasievoll und lustig. P
Von meinem iPhone gesendet
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Herrliche Geschichte, die mich als Friedrichshafener natürlich besonders anspricht. Ich kann übrigens bestätigen, dass die erste Klasse bis Frankfurt tatsächlich überwiegend mit grauen Anzügen besetzt ist. Und Ziegen reisen auf dieser Strecke auch regelmässig, wie in diesem traditionellem Volkslied dokumentiert, allerdings manchmal mit tragischem Ausgang:
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Auf_de_schwäbsche_Eisebahne
Viele Grüße
Marco
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Herzlichen Dank für den schönen Kommentar, der wieder einmal beweist, dass der Austausch über das Verfassen von Blogs für Bildung und Weiterbildung sorgen kann! Ich kannte das Lied sogar, muss allerdings sagen, dass mir das tragische Schicksal des Bockes, der da an den letzten Wagen gebunden wird, bisher noch nicht so zu Herzen gegangen ist wie jetzt. Das Reisen in der ersten Klasse ist aus Ziegensicht also eine echte Verbesserung …
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