Einander erkennen

Seit vielen Jahren schon lief das Weihnachtsfest bei Marlies und Benjamin, die miteinander verheiratet, aber kinderlos waren, nach dem selben Fahrplan ab. Zuerst sangen sie zweistimmig Süßer die Glocken nie klingen – wozu Marlies Zither spielte und Benjamin Hackbrett – dann blickten sie etwa eine Viertelstunde lang gedankenverloren ins Licht der Kerzen an ihrem Christbaum, schließlich beschenkten sie einander jedes Jahr mit den gleichen Gaben – Marlies erhielt von Benjamin immer einen Jahresvorrat an Backofenreinigern, Benjamin bekam von Marlies im Gegenzug stets ein paar selbst bemalte Gummistiefel – und begaben sich dann in die Küche, um sich dort einen Riesenberg an Speckknödeln aus der Tiefkühltruhe zuzubereiten, die sie im Sommer davor gemeinsam vorgekocht und eingefroren hatten. Nach deren Verzehr fielen sie dann für gewöhnlich mit vollen Bäuchen ins Bett und schliefen sofort ein.

Als Marlies in diesem Jahr ihr Päckchen in die Hand nahm, um es zu öffnen, fiel ihr gleich auf, dass es eine andere Form hatte, als sie es erwartet hatte.

„Ein Profi-Schminkkoffer für Maskenbildner?“, rief sie entgeistert aus, als sie das Geschenkpapier vollständig entfernt hatte.

„Wie hast du das sofort erkannt?“, fragte Benjamin verblüfft.

„Ganz einfach“, erwiderte Marlies. “Ich habe dir genau das gleiche geschenkt. Ich dachte mir, wenn wir uns maskieren und schminken, könnten wir unser eingerostetes Liebesleben ein bisschen aufpeppen. Mit selbst bemalten Gummistiefeln klappt das nicht.“

„Genau dasselbe habe ich mir auch gedacht“, seufzte Benjamin, der den Schminkkoffer, den Marlies ihm geschenkt hatte, mittlerweile auch ausgepackt hatte. „Deswegen habe ich dir diesmal keine Backofenreiniger gekauft.“

„Wir sollten es gleich ausprobieren!“, rief Marlies. „Gehen wir doch ins Bad und schminken und maskieren wir uns vor dem großen Spiegel.“

„Wenn wir einen Sichtschutz zwischen uns stellen, bis wir fertig sind“, schlug Benjamin vor, „wird es noch spannender.“

Marlies nickte. Sie trug die beiden Koffer ins Bad, während Benjamin aus der Garage einen türkisen Paravent holte, den er einmal bei einem Schirennen als Trostpreis gewonnen hatte. Sie stellten ihn genau in der Mitte zwischen ihnen beiden auf, organisierten sich noch zwei Stühle und legten dann los. Die Koffer waren mit allem ausgestattet, was ihr Herz begehrte. Es gab jede Menge Perücken, falsche Haarteile, modellierbare Kunststoffohren, Cremes, Lippenstifte, Eyeliner, Haarfärbemittel, Wimperntuschen und vieles mehr. Es dauerte mehr als zwei Stunden, in denen Benjamin und Maries sich hoch konzentriert, jeder für sich, schminkten, maskierten und attraktiver machten.

„Fertig!“, sagte Benjamin irgendwann. „Wie sieht es bei dir aus, Marlies?“

„Gleich, gleich“, erwiderte Marlies. „Nur noch wenige Minuten.“

Benjamin trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Rand des Waschbeckens, bis Marlies endlich: „Fertig!“ rief.

Gemeinsam schoben sie den Paravent zwischen sich zur Seite.

„Du siehst ja aus wie, wie ….“, rief Marlies restlos begeistert, als sie ihren Ehemann erblickte, der sich in jemand anders verwandelt hatte.

„Wie, wie …“, wiederholte Benjamin. „Sag es, Marlies! Ich will, dass du es aussprichst!“

„Du siehst aus wie unser geliebter Bundeskanzler Dr. Sebastian Maria Kurz!“, rief Marlies, einer Ohnmacht nahe, und hauchte dann: „Näher, mein Kanzler zu dir!“

Benjamin, der sich zum ersten Mal maskiert und geschminkt hatte, war über den Erfolg seiner Bemühungen restlos glücklich und lächelte zufrieden.

„Und ich?“, fragte Marlies schließlich, als sie sich wieder ein wenig gefangen hatte. „Wie findest du mich?“

„Du rattenscharfe Schwester des Wirtschaftskammerpräsidenten!“, rief Benjamin aus ehrlicher Begeisterung. „Ich möchte mit dir Liebe machen! Sofort!“

Dazu musste er Marlies kein zweites Mal auffordern. Gemeinsam verschwanden sie in ihrem Schlafzimmer. Die Speckknödel blieben an diesem Abend in der Tiefkühltruhe.

Michael, 25. Dezember 2020

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