Als mir das Leben im heimatlichen Gailtal zu rigid und die ständig wechselnden Coronavorschriften zu anstrengend wurden, wanderte ich spontan aus und zwar gleich richtig, nämlich ans andere Ende der Welt. Ich entschied mich für die Kiribati-Inseln mitten im Pazifik, die direkt an der Datumsgrenze liegen und die von der Seuche bisher vollständig verschont geblieben waren. Ich ließ mich auf der kleinen Insel Wishi-Wishi nieder, einem pittoresken Fleckchen Erde, auf dem alles menschliche Leben dem Schutz der einzigartigen Flora und Fauna untergeordnet war. Die strengen Bestimmungen legten fest, dass auf der Insel in der Natur weder das Rauchen, noch das Kaugummikauen, das Feuermachen oder gar das Verrichten großer oder kleiner Geschäfte gestattet waren. Wer dem zuwiderhandelte, musste mit strengen Strafen rechnen. Nachdem ich mich in meinem kleinen Bungalow häuslich eingerichtet hatte, schlüpfte ich in der Silvesternacht in die Gailtaler Männertracht, die ich von meinem alten Zuhause mitgebracht hatte, und begab mich zum ersten Mal ins Zentrum des Dorfes, das meine neue Heimat werden sollte. In einer Informationsbroschüre hatte ich gelesen, dass die Datumsgrenze genau in der Mitte der Dorfstraße verlief. Als plötzlich die Glocke der kleinen Kirche zur Mitternacht läutete, wurde mir plötzlich klar, dass auf der einen Straßenseite schon das Neue Jahr angebrochen war, während auf der anderen Seite dem alten Jahr seine letzte Stunde geschlagen hatte. Ausgelassen fing ich an zwischen den Straßenseiten hin und her zu springen und dabei vom alten Jahr in das neue einzutauchen und gleich wieder zurück zu hechten in das alte. Viele Male wiederholte ich die Prozedur und wurde dabei immer ausgelassener und fröhlicher, weil ich mich zum ersten Mal in meinem Leben in der Zeit vorwärts und rückwärts bewegen konnte. Die wenigen Einheimischen, die in zwei einander gegen überliegenden Kneipen im Freien saßen und hin und wieder an ihren aus Wishi-Wishi-Nüssen gebrannten Schnäpsen nippten, sahen mich verständnislos an. „Nun habt euch doch nicht so!“, rief ich ihnen zu. „Ihr kennt das alles schon von Kindesbeinen an! Für mich aber ist es das erste Mal!“ Weil sie ein wenig mürrisch dreinblickten und ich es mir mit ihnen nicht gleich zu Anfang verderben wollte, bewegte ich mich beim Hüpfen allmählich aus dem Ort hinaus, die vom Laternenlicht erhellte Straße hinunter zu dem kleinen Naturhafen. Ich fühlte mich immer wohler in meinem Schwung und begann schließlich meine Schritte ganz gezielt zu setzen und hüpfte nicht mehr bloß hin und her, sondern tanzte, und verfiel zwischen den beiden Jahren in einen mir wohlvertrauten Takt und begriff plötzlich, dass die Bewegungen, die ich vollführte, denen des Gailtailer Hochzeitstanzes entsprachen. „Was mir jetzt zu meinem Glück noch fehlt“, dachte ich während der Drehungen, „ist eine Partnerin, die mit ihr tanzt.“ Zu meinem allergrößten Erstaunen hatte das Universum ein Ohr für meinen Wunsch. Unten an der Hafenmole tauchte plötzlich eine Gestalt auf und als sie näherkam, sah ich, dass es eine Frau war, die ebenfalls tanzte. Als sie nahe genug war, realisierte ich zu meiner großen Verblüffung, dass sie eine Untergailtaler Frauenfesttracht trug. Die Bewegungen, die die Frau vollführte, entsprachen allerdings in keiner Weise denen meines Hochzeitstanzes, sondern erinnerten mich vielmehr an einen Twist. Während sich ihr Rock hob und wieder senkte, erhaschte ich einige Blicke auf ihre festen Waden und ihre wohlgeformten Oberschenkel. „So attraktiv“, dachte ich selig und stolz, „sind halt nur die Gailtalerinnen.“ Der Gesichtsausdruck der Frau war allerdings einigermaßen verbissen. Ich umgarnte und umkreiste sie und versuchte sie dazu zu animieren, in den Rhythmus meines Hochzeitstanzes einzuschwenken. Mir war kein Erfolg beschieden. Die Frau widersetzte sich meinen Bemühungen und twistete äußerst angespannt weiter. Als ich nach einem Blick auf meine Uhr feststellte, dass auch auf der anderen Seite der Datumsgrenze das alte Jahr bald vorbei sein würde, sprach ich, während ich immer noch weiter tanzte, die Frau direkt an. „Was ist los mit dir, du unverhoffte Gailtalerin?“, rief ich. „Warum magst du denn den Hochzeitstanz mit mir nicht tanzen?“ „Ich tanze überhaupt nicht“, rief sie, während sie weiter twistete. „Was machst du dann?“, hakte ich nach. „Ich muss dringend aufs Klo!“, rief sie. „Aber die einzige Kabine, die es im ganzen Hafen gibt, belegt mein Onkel. Wir leben schon seit Jahren auf der Nachbarinsel Washi-Wishi. Jetzt wollen wir aber ins Gailtal zurück. Mein Onkel hat sich ins Aborthäuschen zurückgezogen und studiert die neuesten Quarantänebestimmungen, die das österreichische Gesundheitsministerium für die Einreise erlassen hat. Das kann noch ein paar Stunden dauern!“ In diesem Augenblick schlug die Kirchturmuhr oben im Dorf wieder zur vollen Stunde. Das alte Jahr war nun endgültig vorbei, auf beiden Seiten der Datumsgrenze. Wider Erwarten öffnete sich just in diesem Moment quietschend die Tür des Aborthäuschens. Die Frau stürmte erleichterte hinein, nachdem ihr Onkel es mit einem armdicken Aktenordner verlassen hatte. Ich hörte schlagartig zu tanzen auf. „Ich weiß Bescheid“, sprach ich den Onkel an. „Was hast du herausgefunden? Wann werdet ihr ins Gailtail zurückkehren?“ „Es ist zu kompliziert“, erwiderte der Onkel und blickte mich mit tränenfeuchten Augen an. „Wir müssen hierbleiben.“ Als seine Nichte wieder aus dem Aborthäuschen kam, versicherte ich ihr, wie leid es mir täte für sie. „Nicht so schlimm!“, sagte sie tapfer und versuchte ein Lächeln. Da fasste ich mir ein Herz und forderte sie wenigstens noch einmal auf: „Darf ich bitten?“ Diesmal erhörte sie mich. Wir drehten uns im Gailtaler Hochzeitstanz bis zum Morgengrauen und begrüßten so das Neue Jahr, von dem wir hofften, dass es ein bewegendes werden würde.
Michael, 31. Dezember 2020.
Gailtal oder Wishi Wishi – Tanzen hilft immer gegen zu rigide Regeln. Aber ein Toilettenengpass kann die Freude weltweit trüben, das ist nachvollziehbar.
Wünsche dir ein gutes neues Jahr und dass die Ideen für weitere Geschichten nie ausgehen!
Viele Grüße
Marco von sinnlosreisen
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Danke, Marco – ich wünsche dir auch ein gutes Neues Jahr! Ich bin zuversichtlich, dass mir weiterhin was einfällt – manchmal ist es allerdings eine Herausforderung!
Dir wünsche ich auch noch, dass du bald wieder uneingeschränkt reisen und neue Berichte über deine Erlebnisse in der Ferne schreiben kannst. Ich lese deine Blogbeiträge sehr gern und schätze deinen wirklich feinen Humor!
Beste Grüße aus Bürmoos
Michael
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