Zwischen den Stühlen

Schmachter und seine Verlobte, die wussten, dass ihre jeweiligen Herkunftsfamilien einander spinnefeind waren, entschieden sich dennoch für eine Trauung. Schmachter bestellte das Aufgebot für Standesamt und Kirche. Seine Braut sandte Einladungen aus an alle, die sie beide kannten. Trotz der bestehenden Differenzen war der Trauungssaal am Ehrentag bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf der einen Seite hatten die Mitglieder von Schmachters Familie Platz genommen, auf der anderen die, die mit seiner Braut verwandt waren. Im Saal knisterte es vor Spannung und es blitzte von den vielen bösen Blicken, die zwischen den Lagern hin- und hergeworfen wurden. Als Schmachter selbst als einziger keinen freien Stuhl mehr fand, schob er kurzer Hand seine Braut und seine Mutter ein klein wenig auseinander und setzte sich zwischen die Stühle der beiden auf den nackten Fußboden. Der Standesbeamte sagte nichts, als er den Saal betrat und die Zeremonie eröffnete. Während der Ansprache blieb Schmachter auf dem Boden sitzen und tat so, als ob dies die normalste Sache der Welt wäre. Als der Standesbeamte die angehenden Eheleute aufforderte, nach vorne zu kommen, erhob sich Schmachter, klopfte sich, so gut es ging, den Staub von seinem Hosenboden und trat neben die Braut. Begleitet von feindseligem Gemurmel im Saal wurde die weltliche Ehe zwischen Schmachter und seiner Verlobten geschlossen und beurkundet. Etwa eine Stunde später war auch die Kirche brechend voll. Auf der eine Seite hatten sich wiederum Schmachters Verwandete niedergelassen, die Bankreihen ihnen gegenüber wurden vollständig von den Angehörigen seiner nunmehrigen Frau okkupiert. Für die Brautleute und ihre Eltern waren vor dem Altar wiederum Stühle vorbereitet worden, wohl aus einem Versehen heraus lediglich fünf an der Zahl. Schmachter setzte sich also auch diesmal zwischen die Stühle seiner Braut und seiner Mutter. Der Pfarrer war ein ähnlicher Hasenfuß wie der Standesbeamte  und schwieg, als er den Bräutigam auf dem steinernen Kirchboden sitzen sah. Er spulte die Trauung in routinierter Langeweile ab. Immer, wenn Schmachter im Verlauf der Zeremonie aufgefordert wurde, sich zu erheben, kam er dem nach, in dem er sich dabei jedesmal den Staub aus seiner immer unansehnlicher werdenden Anzughose klopfte. Als der Pfarrer diejenigen aufforderte, die noch etwaige Einwände gegen die Verbindung von Schmachter und seiner Frau vorzubringen hätten, dies nun sofort zu tun oder für immer zu schweigen, trat niemand in dem Gotteshaus vor, um etwas zu sagen. Als ein Schweigen konnten das feindselige Gezische und das zornige Gemurmel in den beiden Lagern aber auch kaum durchgehen. Der Pfarrer vollzog  die Trauung in größtmöglicher Eile und suchte danach grußlos das Weite. Für die Hochzeitsfeier am Abend hatte das nunmehrige Ehepaar Schmachter die beiden Säle des städtischen Tanzpalastes gemietet. In dem einen Saal tanzte die Famile Schmachters, in dem anderen die seiner Frau. Zwischen den beiden Sälen gab es eine Verbindungstür, die Mitglieder der beiden verfeindeten Familien von beiden Seiten immer wieder zu schließen versuchten. Schließlich stellte Schmachter zwei Stühle zwischen die offenen Türflügel und setzte sich dazwischen auf den Parkettboden. Immer wieder kam es über seinen Kopf hinweg zu Sticheleien und Rangeleien zwischen den beiden Parteien. Als irgendwann eine Faust von einem Saal in den anderen hinüberflog und dort krachend eine Schläfe traf, brach der letzte Damm des Anstands. Schmachter und seine beiden Stühle wurden unsanft zur Seite geschoben. Dann setzte eine so wüste Prügelei und Rauferei ein, wie sie selten zuvor eine Hochzeitsfeier gesehen hatte. Schmachter duckte sich und tauchte ab, um den Kampfhandlungen auszuweichen. Er machte sich auf die Suche nach seiner Frau, die er zum Glück im Vorraum hinter einem Gummibaum fand, hinter dem sie sich weinend versteckt hielt. Schmachter zog seine staubige Anzughose aus, knüllte sie zusammen und warf sie in einen der beiden Säle. Die frischgebackenen Eheleute verließen die Feier, wovon niemand Notiz nahm. Schmachter nahm seine Frau an der Hand und fuhr mit ihr in Unterhosen mit der Straßenbahn zu ihrer neuen gemeinsamen Wohnung. Dort zogen sie sich bequeme Kleidung an, legten ein paar Platten auf und tanzten die ganze Nacht eng umschlungen miteinander, bis sie so scharf aufeinander waren, dass sie ihre junge Ehe im Morgengrauen endlich vollzogen.

Michael, 12. Februar 2021.

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