Eines Tages beschloss der Maschinenschlosser Leonhard Winkler, der keinerlei Vorkenntnisse besaß, es in seiner Freizeit mit der Malerei zu versuchen. Er besorgte sich Pinsel, Farben, eine Staffelei, eine Palette und einen Vorrat an Leinwänden und legte sofort los. Er malte ohne Vorlage und schwang aufs Geratewohl seine Pinsel.
Das Ergebnis nach nur einer halben Stunde war höchst erstaunlich. Leonhard Winkler hatte aus dem Gedächtnis eine vom Original nicht zu unterscheidende Kopie der Mona Lisa auf die Leinwand gezaubert.
Er holte sofort seine Frau dazu, die ihre Hände über ihrem Kopf zusammenschlug. Nachdem sie das Bild auf der Leinwand mit einer Abbildung aus einem Bildband über Da Vinci verglichen hatte, nannte sie ihren Mann einen miesen Betrüger, der fertige Bilder kaufe, anstatt selbst zu malen. Vor ihren Augen malte Winkler in 20 Minuten eine neue Mona Lisa, die der echten und der ersten Kopie wieder aufs Haar glich.
„Taschenspielertricks!“, murmelte Winklers Frau und musste mitansehen, wie der Maschinenschlosser in einer Viertelstunde eine weitere identische Kopie der Mona Lisa auf die Leinwand warf.
„Das kann doch nicht sein!“, rief die Frau. „Völlig unmöglich!“
„Du hast es doch selbst gesehen“, entgegnete Leonhard Winkler und malte eine weitere Kopie, diesmal in 14 Minuten.
„Du kannst das doch nicht von selbst!“, sagte seine Frau. „Es muss an deiner Ausrüstung liegen! Ich versuche es jetzt auch.“
Sie schnappte sich eine Leinwand, mischte sich auf der Palette die von ihr gewünschten Farben und begann zu malen. Das Ergebnis war ernüchternd, ein dilettantisch gemaltes Gesicht, bei dem weder Farben noch Züge oder Proportionen auch nur im Entferntesten an Da Vincis Meisterwerk erinnerten.
„Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu!“, klagte Winklers Frau und warf Palette und Pinsel verzweifelt auf den Boden. Leonhard Winkler hob alles seelenruhig auf und malte souverän eine weitere Mona Lisa.
Als er diesmal den Pinsel weglegte und sich über sein neuestes Werk beugte, um es immer noch ungläubig aus der Nähe zu betrachten, geschah etwas Bemerkenswertes. Aus der Leinwand schossen plötzlich zwei Frauenarme hervor, die ganz offensichtlich der Mona Lisa gehörten, die ihre Position im Bild verändert hatte und nicht mehr lächelte. Die Arme packten Winkler und zogen ihn, ehe er sich richtig zur Wehr setzen konnte, vollständig in das kleine Bild hinein.
„Das kannst du doch nicht machen!“, schrie Winklers Frau entsetzt in das Gemälde. „Gib sofort meinen Mann wieder heraus!“
„Ich denke gar nicht daran!“, erwiderte die Mona Lisa aus dem Bild. „Er kann wenigstens richtig gut malen! Ich behalte ihn. Aber du kannst im Tausch diesen Mann dafür haben! Er hat mich bloß ein einziges Mal passabel getroffen!“
Aus dem Bild wurde ein bärtiger Greis herausgequetscht, der gekleidet war wie einer aus dem 16. Jahrhundert und der sich augenscheinlich dagegen wehrte, dass er in eine andere Zeit geschoben wurde.
Es war vergeblich. Als er vor ihr auf dem Boden saß und sich die schmerzenden Hüften rieb, erkannte Winklers Frau sofort, dass es sich um Leonardo da Vinci handelte.
„Mach alles rückgängig!“, schrie sie in das Bild hinein. „Hörst du? Sofort!“
Aber das Gemälde, das nun wieder aussah wie zuvor, blieb stumm und rührte sich nicht mehr. Da wusste Winklers Frau, dass sie sich in ihr Schicksal fügen musste. Sie hielt Leonardo ihre Hand hin und zog ihn in die Höhe.
Er war nun ihr Mann. Sie bemühte ihre eingerosteten Sprachkenntnisse und hieß ihren neuen Gatten willkommen im 21. Jahrhundert. Er bedankte sich artig in seinem eigenwilligen, sehr altertümlichen Italienisch, und trug gleich die fertigen Mona Lisas zusammen und lehnte sie verkehrt herum an die Wand. Dann nahm er sich die Palette und einen Pinsel und fing auf einer frischen Leinwand selbst zu malen an.
Obwohl er sich Zeit ließ und seine neue Mona Lisa erst nach ein paar Tagen fertig wurde, geriet sie eher durchschnittlich.
Michael, 19. März 2021