Der junge Benediktinermönch Ansgar, der erst wenige Wochen zuvor sein Gelübde abgelegt hatte, entdeckte auf einem Spaziergang durch den Abteigarten im Mauerwerk einen losen Stein, der sich herausziehen ließ. Neugierig spähte Ansgar durch die dahinter befindliche Lücke, die den Blick auf ein privates Grundstück freigab. Als er genauer hinsah, bemerkte er auf einer Campingliege eine junge Frau, die sich mit leicht geöffneten Beinen dort sonnte. Die Frau war nackt. Der junge Mönch hatte sich vor seiner Entscheidung für das enthaltsame Leben zur Stärkung seiner Willenskraft Dutzende Male jene Szene aus dem Film „Der Name der Rose“ angesehen, in dem das Mädchen den Novizen Adson verführte. Danach hatte Ansgar jedes Mal stundenlang gebetet. Nun musste er zu seiner Bestürzung erkennen, dass die Anziehung durch das weibliche Geschlecht in Wirklichkeit noch viel stärker war als im Film. Er starrte regungslos mit angehaltenem Atem unentwegt auf den herrlichen Frauenkörper in dem Nachbargarten. Plötzlich aber wurde er von einer kräftigen Hand an seiner Kutte im Genick gepackt und von der Steinmauer weggeschleudert. Er plumpste wie ein Sack zu Boden. Als er aufblickte, sah er vor sich den Abt, dessen Gesicht gerötet war vor lauter Zorn. „Ich schwöre, es ist nichts, ehrwürdiger Abt“, murmelte Ansgar unterwürfig. „Ich hätte widerstanden.“ „Das mag ich dir glauben oder nicht“, wetterte der Abt, „doch ich warne dich: Lass für alle Zeiten deine Blicke von dieser Frau hinter der Mauer!“ „Warum gerade von ihr?“, fragte Ansgar fast unhörbar. „Warum?“ schrie der Abt. „Weil sie meine Tochter ist!“
Michael, 26. März 2021.