Das dritte Jahrzehnt verbrachte sie schon Seite an Seite ihres Mannes Manfred, der aufgrund einer Glutenunverträglichkeit regelmäßig an Verdauungsstörungen litt. Ihr Traum einer Ballonfahrt zu zweit konnte aus diesen Gründen nie stattfinden, da das immer wieder plötzlich auftretende Problem ihres Mannes im Falle einer Ballonfahrt zu unschönen Szenen führen würde. Am Ostersonntag, es war noch sehr früh, ging sie eine Runde joggen. Sie hörte die Vögel zwitschern, im Wald spürte sie den kühlen Wind auf ihrem Gesicht und sie genoß die Lust an der Bewegung. Heute war wieder ihre jüngere Schwester angekündigt, die neben ihrem langweiligen Freund ihre lästigen Kinder mitbringen würde, deren einziger Lebenszweck die Verwüstung fremder Häuser zu sein schien.
Sie hörte ein leises Zischen, kurz bevor der Waldweg auf eine Wiese führte. Sie wusste sofort, dass es sich um einen Ballon handeln müsste. Sie rannte schneller und sah ihn, groß, mächtig, nicht allzu alt, einen Ballonfahrer, wie sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte. Der Ballon selbst war bereits zum Abheben bereit. Sie sprach ihn an, Kurt, wollte wissen, wie das so ist mit der Ballonfahrt. Kurt erzählte ihr von unglaublichen Weitblicken, von Übersicht, von Freiheit und dem sich Treiben lassen. Sie war begeistert und fragte, ob er denn alleine fahre. Er antwortete, dass er sich jeden Sonntag auf irgendeine Wiese mit seinem Ballon stellen würde und dann immer auf eine passende hübsche Läuferin warten würde, da sich nach unzähligen misslungenen Tests diese Aufriss-Methode als äußerst erfolgreich erwies, da eine Flucht de facto ausschied. Sie lächelte, ergriff seine Hand und stieg ein. Keine fünf Minuten später stiegen sie hoch, er hatte nicht zu viel versprochen. Das Panorama war einzigartig, der Ausblick überwältigend, ein Gefühl der Leichtigkeit stellte sich ein und zu ihrer Überraschung gab es nicht den geringsten Fahrtwind. Als sie merkte, dass sie noch immer seine Hand hielt, küsste er sie schon. Kurt war leidenschaftlich, sie ließ ihn weiter gewähren, wollte mehr, selbst der Bart störte sie nicht. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie das ist, einen Mann ohne Blähungen an ihrer Seite zu haben. So konnte sie neben der Ballonfahrt zwei weitere Höhepunkte verbuchen. Nach drei Stunden landeten sie. Er bestellte ihr routiniert ein Taxi, bezahlte den Taxifahrer im Voraus und nach dem Austausch der Telefonnummern verabschiedeten sie sich.
Sie verließ das Taxi wenige Meter vor dem Haus und joggte die letzten Meter retour. Wo sie denn den ganzen Vormittag gewesen wäre, wollte ihr Gatte wissen, er hätte vor Aufregung Stunden auf dem WC verbringen müssen. Sie antwortete fast wahrheitsgemäß, dass sie plötzlich beim Laufen eine solche Lust entwickelte und so ungewollt eine Marathonstrecke zurückgelegt hätte. Ihr Gatte verstand es zwar nicht, gab sich aber damit zufrieden. Am Nachmittag kam ihre Schwester samt Entourage. Diesmal war sie eine gute Gastgeberin, ruhte in sich, war richtig glücklich. Selbst mit den Kindern spielte sie. Ihre Schwester wurde fast schon misstrauisch, aber schöpfte schlußendlich doch keinen Verdacht. Kurt traf sie von diesem Ostersonntag an meist einmal in der Woche, den Ballon ließ er dabei zu ihrem vollsten Vergnügen immer steigen.
Harald, 2. April 2021
„Sie wusste schon gar nicht mehr, wie es ist, einen Mann ohne Blähungen an ihrer Seite zu haben“
Herrliches Detail!
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