Frühlingsgefühle

Der Frühling hatte ihn tief im Herzen berührt, er fühlte sich trotz fortgeschrittenen Alters wieder sehr fit. Die erwachende Natur, das Vogelgezwitscher, die Schnittblumen im Esszimmer, alles schön, aber sein echtes Interesse weckte der Einzug einer etwas über dreißigjährigen Frau in der Nachbarsvilla des verstorbenen Herrn Kürsch. Sie war sehr attraktiv, keine Kinder, so weit er feststellen konnte. Es dauerte folglich keine zwei Tage, da stellte er sich bereits vor. Verena war aus der Nähe noch hübscher, ihr Lächeln bezauberte ihn sofort. Dass sie auch noch Musicaldarstellerin fand er schlicht perfekt, er, der sich für Kultur schon immer interessierte. Ehrlicherweise schien er sich eher aber für weiblich besetzte Nebenrollen zu begeistern. Er schlug vor, ihr die Gegend zu zeigen und nichts wäre als Fortbewegung dafür passender als sein neuer, roter Bentley „New Flying Spur V8“. Seine Frau von dieser absolut notwendigen Neuanschaffung zu überzeugen, dauerte fast den ganzen Winter. Sie war – nachdem er bereits zwei Maybachs geschrottet hatte – vorsichtig gesagt leicht skeptisch, am Ende gönnte sie ihm aber seine Leidenschaft. Verena war spontan und bereits am Nachmittag stand er mit dem Bentley vor ihrer Tür, um sie abzuholen. Sie verließen das Villenviertel und Verena schien das Schnurren des 4,0l-V8-Motors zu genießen. Auf der Landstraße beschleunigte er den Bentley auf fast 250 km/h. Verena hatte Bedenken, ob sie da schon viel von der Gegend sehen würde. Der Wald wäre nicht so interessant, erklärte er ihr, erst der 25 Kilometer entfernte See. Sie waren nach knappen zehn Minuten dort und stiegen aus. Er öffnete den Kofferraum und nahm beschwingt den vorbereiteten Picknickkorb mit. Der abgelegene Platz, den sie nach weiteren zehn Minuten erreichten, war tatsächlich wunderschön. Der Ausblick über den See auf das nahe Gebirge begeisterte Verena. Er öffnete die Dom-Pérignon-Flasche und sie stießen auf gute Nachbarschaft an. Als sie sich das erste Mal küssten, erschrak er etwas. Verena entschuldigte sich aber gleich für ihre Ungestümtheit, die wohl nur von den Proben für „Tanz der Vampire“ herrührte. Er fand die kleinen Bisse aber durchaus erotisch und als sie miteinander schliefen, war ihm klar, dass der Bentley einer seiner besten Ideen war. Sie aßen danach etwas Antipasta und Verena wollte noch das Gebirge aus der Nähe besichtigen. Diesen Wunsch wollte er Verena, die wohl auch als Musical-Darstellerin äußerst talentiert war, natürlich erfüllen. Bei den Serpentinen nach oben spielte der Bentley nochmals all seine Vorteile aus. Er kannte eine kleine Berghütte, die jetzt im Frühjahr noch unbewohnt war. Die zweite Dom-Pérignon-Flasche wurde geöffnet und Verena hatte schon wieder Lust. Diesmal spürte er ihre Bisse schon etwas heftiger, aber war doch über seine Manneskraft positiv erstaunt.  Nachdem die Flasche geleert war, Hunger hatten sie keinen mehr, machten sie sich auf den Heimweg. Als sie das Waldstück erreichten, legte Verena bei knappen 200 km/h ihre Hand auf seinen Oberschenkel und lächelte wieder unglaublich verführerisch. Ihm war klar, der Nachmittag war noch nicht zu Ende, auch wenn ihn das bereits leicht ängstigte. Er wollte in den Waldweg, den er in bester Erinnerung hatte, in dreißig Meter Entfernung abbiegen und bremste heftig. Der Bentley schien noch etwas schwerer als der vorherige Maybach zu sein und er kam wieder mal ins Schleudern. Den Feldweg erwischte er noch, blieb aber nicht lange auf diesem sondern fuhr bereits die Böschung entlang. Nach vermutlich hundert Metern kam der Bentley zum Stehen, kippte aber am Schluss noch auf die Seite. Verena meinte, dass sie jetzt irgendwie doch die Lust verloren hätte und sie außerdem bereits Morgen nach Wien zur Probe muss. Er rief ihr ein Taxi und sich selbst einen Abschleppwagen. Als seine Frau von ihrer Kirchenbesichtungsreise am übernächsten Tag aus Italien retour kam und sich nach dem Bentley erkundigte, sprach er von einem notwendigen Service, der aufgrund eines Rückrufs notwendig wurde, da das Fahrzeug den Elchtest nicht bestanden hätte. Er haderte sehr mit seinem Schicksal, ließ sich von seiner Frau auch nur schwer trösten und verlor schon fast die Lust an seinem Bentley. Erst als zwei Wochen später Verena anrief, sich nach dem Bentley erkundigte und fragte, ob er denn nicht Lust hätte, nach Wien zu kommen, da sie ein Hotelzimmer für sich alleine so deprimierend fände, erholte er sich wieder. Als er sich von seiner Frau verabschiedete, um in Wien einen Geschäftstermin wahrzunehmen und den Bentley startete, stellten sich bei ihm doch wieder diese besonderen Frühlingsgefühle ein.

Harald, 23. April 2021.

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