Kugelgrill

Bei einer Tombola in einem Kaufhaus, an der ich teilnahm, gewann ich den Hauptpreis, eine exklusive Fotosafari am Weißen Nil. Bei der Preisverleihung in der Damenmodenabteilung nahm ich die Ehrenhostess, eine verkleidete Verkäuferin, beiseite und fragte sie, ob eventuell eine Barablöse möglich wäre, da ich ein ausgemachter Hasenfuss sei, dem schon beim Gedanken an einen Aufenthalt am Nil die Knie schlotterten. Ich müsse die Reise auf jeden Fall antreten, sagte die Hostess, das Kaufhaus wolle nämlich nach meiner Rückkehr mit den Bildern werben, die ich im Sudan schießen würde. Ich schluckte und bat um Bedenkzeit bis zum folgenden Tag. Meiner Bitte wurde entsprochen. Zu Hause besprach ich mich mit meiner greisen Mutter, bei der ich immer noch wohnte. Irgendwer müsse auf jeden Fall fahren, sagte sie, nachdem ich ihr alles erzählt hatte. Man könne einen so schönen Gewinn unmöglich verfallen lassen. Wenn ich nicht führe, fahre eben sie an meiner Stelle. Sie fühle sich mit ihren neunzig Jahren nämlich keineswegs zu alt für ein Abenteuer in Afrika. Da nahm ich notgedrungen all meinen Mut zusammen und rief beim Kaufhaus an und gab zitternd Bescheid, dass ich die Reise doch antreten würde. Schon am nächsten Morgen flog ich mit einer Frachtmaschine, einer altersschwachen DC-10, nach Kusti im Sudan. Bei der Landung war die Windel, die ich sicherheitshalber angelegt hatte, nach den heftigen Turbulenzen gut gefüllt. Am Flughafen wurde ich bereits von einer einheimischen Fahrerin erwartet, deren Aufgabe es war, mich in ihrem Jeep an die schönsten Plätze am Weißen Nil zu chauffieren, damit ich dort Aufnahmen von Flora und Fauna machen konnte. Die Fahrerin beklagte sich, dass sie vom Kaufhaus nur einen Hungerlohn dafür bekäme, dass sie mich herumkutschierte. Deshalb wolle sie die Sache schnell hinter sich bringen. Das Viehzeug im Sudan sei bis auf die Nilkrokodile ohnehin sterbenslangweilig. Deshalb werde sie mich gleich an eine seichte Stelle nahe ihrem Heimatdorf fahren, wo es Krokodile gäbe und wo ich meine Bilder schießen könnte. Eine Kamera liege hinten in ihrem Jeep. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und wir fuhren sofort los. Zwei Stunden später war ich froh, dass ich am Flughafen noch rasch eine frische Windel angelegt hatte, die am Ziel, einer dichtbewachsenen Stelle direkt am Ufer, wieder voll war. Der Fahrstil meiner Chauffeurin war dem einer sprichwörtlichen Mörderhenkerin mindestens ebenbürtig. Schweißgebadet stieg ich aus dem Jeep und versuchte mich zögernd mit meiner neuen Umgebung vertraut zu machen. Meine Fahrerin sah mir ein paar Minuten lang zu. Dann eröffnete sie mir ungehalten, dass es so nie klappen würde, wie ich es anginge. Sie drückte mir die Kamera in die Hand, zeigte auf eine kleine Bucht am Flussufer, in der sich ein Kehrwasser gebildet hatte, und erklärte mir, dass dort früher oder später Krokodile auftauchen würden. Das sei schon immer so gewesen. Ich bräuchte dann bloß auf den Auslöser zu drücken. Sie würde mich für eine Weile allein lassen, weil sie das alles schon kenne und sich lieber in ihrem Dorf im Fernsehen ein Spiel der Afrikameisterschaft im Frauenfußball ansehen wolle. Sie stehe nämlich auf Frauenfußball und auch generell auf Frauen. Ich wagte es nicht, ihr zu widersprechen. Eine Minute später stand ich allein auf einem fremden Kontinent mit einer Kamera an einem gefährlichen Fluss und wartete dort auf Krokodile, um sie zu fotografieren. Als mir meine Lage bewusst wurde, kullerten mir dicke Tränen aus den Augen. Warum bloß, schluchzte ich, habe ich nicht meine Mutter fahren lassen? Völlig verzweifelt umklammerte ich meinen Fotoapparat. Ich hatte mit der Welt so gut wie abgeschlossen. Auf einmal aber hörte ich Schreie, die so aufgeregt und flehend klangen, dass mir klar wurde, dass irgendjemand in höchster Not war. Ich blickte mich um und entdeckte auf einer kleinen Insel im Nil ein halbes Dutzend Frauen, die wild in meine Richtung gestikulierten und die explizit um Hilfe riefen, als sie bemerkten, dass ich sie ansah. Weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, rief ich zu den Frauen hinüber, was um alles in der Welt sie auf einer Insel mitten im Weißen Nil trieben. Sie seien auserwählte Jungfrauen, kam die Antwort, die den Flussgöttern das halbjährliche Opfer darbringen sollten, damit sie besänftigt würden. Am Flussufer hätten sie dazu schon Zebrafleisch und Bananenblätter auf einen Kugelgrill gelegt und ihn angeheizt. Sie hätten dann auf die Insel übergesetzt, um dort noch ein paar seltene Kräuter zu pflücken. Leider habe sich ihr Boot aber losgerissen und sei abgetrieben. Zu ihrem Unglück sei schon ein paar Mal das riesige berüchtigte Krokodil unmittelbar vor ihnen aus den Fluten aufgetaucht und habe sie teuflisch angegrinst. Es sei schlau und lauere nur darauf, dass sie, die Jungfrauen, ins Wasser stiegen, um ans Ufer zurückzuschwimmen. Ich wüsste nicht, wie ich ihnen helfen sollte, rief ich hinüber, ich sei nämlich ein kompletter Feigling und könne es niemals mit einem Krokodil aufnehmen. Ich müsse bloß ins Dorf laufen, rief eine der Frauen, und dort Hilfe holen. Ich schluckte und sagte, dass ich es mir überlegen wolle. In diesem Moment stießen die Frauen auf der Insel so gellende, verzweifelte Schreie aus, dass ich vollends in Panik verfiel und kopflos ein paar Schritte rückwärts in Richtung der kleinen Bucht mit dem Kehrwasser taumelte. Dabei stieß ich unabsichtlich ein Hindernis um, das mich zu Fall brachte. Während ich stürzte, drückte ich irrtümlich ein paar Mal auf den Auslöser meiner Kamera. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass ich über den heißen Kugelgrill gestolpert war, der wiederum auf ein riesiges Krokodil gestürzt war und dessen Inhalt in Gestalt von rotglühender Holzkohle nun den Leib des Reptils so stark versengte, das es sich gequält ächzend und knurrend in die Fluten des Weißen Nils trollte und das Weite suchte. Die Jungfrauen auf der Insel sprangen sofort jubelnd ins Wasser und schwammen zu mir herüber. Am Ufer entledigten sie sich ihrer triefend nassen Kleider und begannen mich splitternackt zu umringen und zu umarmen und an sich zu drücken. Ich sei ein Held, rief eine. Ich hätte sie vor dem riesigen, berüchtigten Krokodil gerettet. Dafür stünden sie tief in meiner Schuld. Ich dürfe mir von ihnen wünschen, was ich wolle. Darüber müsse ich erst nachdenken, stammelte ich, ich sei nämlich noch nie von sechs nackten Jungfrauen gedrückt worden, ja nicht einmal von einer. Da lächelte die Sprecherin und sagte, dass sie in ihrer Not ein klein wenig geflunkert hätten. Sie seien nämlich allesamt keine Jungfrauen mehr, sondern erfahrene Frauen. Das müsse aber gar kein Nachteil sein, wenn ich verstehe, was sie meine. Da müsse ich leider passen, gestand ich verwirrt. Ich hätte keine Ahnung, worin der Unterschied bestünde. Als Reaktion auf meine Antwort fingen die sechs lauthals zu lachen an. Dazu klopften sie sich aus lauter Begeisterung auf ihre entblößten Schenkel. Sie steckten sich mit ihrem Gelächter immer wieder gegenseitig an, so dass sie am Ende gar nicht mehr aufhören konnten. Irgendwann begriff ich, dass sie mich auslachten, wenn ich auch nicht verstand, weshalb. Nach einiger Zeit hörte ich zum Glück ein bekanntes Motorengeräusch. Ich behielt recht. Es war meine Fahrerin, die nach dem Ende des Fußballspiels gekommen war, um mich wieder abzuholen. Weil Burundi gegen Sierra Leone bloß 0:0 gespielt hatte, war sie entsprechend übellaunig. Als ihr aber eine der sechs Frauen alles erzählte, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte, stimmte auch sie am Ende in das allgemeine Gelächter ein. Da gingen mir einmal mehr die Nerven durch. Ich hätte nun endgültig die Nase voll von Afrika, von Frauen, von Krokodilen und vom Fotografieren, schluchzte ich. Ich wolle sofort wieder nach Hause. Meine Fahrerin kam meinem Wunsch liebend gern nach. Wir ließen die immer noch gackernden Einheimischen einfach stehen und fuhren auf der Stelle zurück zum Flughafen nach Kusti, von wo aus ich erleichtert den Heimflug antrat. Meine Mutter, die mich erst ein paar Wochen später zurückerwartet hatte, schickte mich sofort auf mein Zimmer. Ich nutzte die Gelegenheit und begann endlich in dem Aufklärungsbuch zu lesen, das sie mir ein paar Jahrzehnte zuvor zur Firmung geschenkt hatte. Irgendwann hatte auch ich den Unterschied zwischen Jungfrauen und Frauen begriffen. Es war mir aber egal. Viel mehr störte mich, dass das Kaufhaus die wenigen Fotos, die ich vom Weißen Nil mitgebracht hatte, als verwackelt und unbrauchbar abqualifizierte.

Michael, 30. April 2021

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