Das blaue Klappfahrrad mit dem leistungsstarken E-Motor lehnte abends wieder am Hochstand, den Felicitas schon so oft besucht hatte. Das Jahr war fast schon bis zur Mitte fortgeschritten. Felicitas hatte schon dutzende Keiler heimlich erlegt und die umliegenden Gasthäuser versorgt. Justus half sporadisch, immer dann, wenn seine Gattin einen Ayurveda-Kurs mit einem Portugiesen besuchte, den sie vergötterte, und seine nächtliche Abwesenheit deshalb nicht weiter auffiel. Sie hatten den Abtransport seit geraumer Zeit insofern professionalisiert, als in dem geräumigen camouflage-gemusterten Fahrradanhänger Keiler bis zu 250 kg locker Platz fanden. Aktuell widmete Felicitas sich abwechselnd der Schrotflinte und Justus, was ihre Treffsicherheit doch etwas beeinträchtigte. Nach einiger Zeit entdeckte sie einen Keiler enormen Ausmaßes, der denn Waldboden heftig bearbeitete und legte an. Da Justus ausgerechnet in diesem Augenblick ebenfalls meinte, zum Schuss kommen zu müssen, verfehlte Felicitas ihr Ziel deutlich. Es war nur kurz still, als ein Schrei die Nacht durchdrang: „Merda bosta, puta merde!“ Keine Minute später sah sie auf der Lichtung einen Mann, der sich das Gesäß rieb, planlos mit schmerzverzerrtem Gesicht auf- und ablaufen. Justus kam der von dem Schuss Getroffene sofort bekannt vor. Felicitas machte den Mann vom Hochstand aus aufmerksam, dass er mit seinem Gejammer noch den Keiler vertreiben würde. Der Zurechtgewiesene reagierte ungehalten, weshalb Felicitas kurz überlegte, ob sie nicht noch einen kleinen Warnschuss in seine Nähe abgeben sollte. Sie verwarf den Gedanken, da der Keiler dann wohl endgültig das Weite gesucht hätte. Zu allem Überdruss hörten Felicitas und Justus nun auch noch eine weibliche Stimme, die immerzu „João, João“ rief. Diese Stimme konnte Justus sofort zuordnen, es musste sich um seine Gattin Fiona handeln. Schnell war ihm klar, dass Felicitas den portugiesischen Ayurveda-Kursleiter getroffen haben musste. Seine Gattin hatte sich samt dem Verletzten wohl nicht nur mit dem Ayurveda-Thema beschäftigt. Da sie sich nun schon dem Hochstand näherten, musste Justus schnell handeln. Er nahm die Schrottflinte von Felicitas und versuchte mit heruntergelassener Hose, dem Portugiesen Manieren beizubringen. Nach zwei Schüssen, die nur zu noch mehr Aufregung führten, fuhr Felicitas ihn an, ob er denn übergeschnappt wäre, da der Keiler fast schon außer Schussweite war. Der Portugiese fuchtelte mit den Armen, erhob die Faust Richtung Hochstand und fluchte: „Filha da puta!“ Felicitas, die als Studentin aufgrund eines Liebhabers rudimentäre Portugiesisch-Kenntnisse verfügte, antwortete: „Vá ou vai à merda!“ Der Portugiese dachte gar nicht daran das Weite zu suchen, sondern drehte sich um, zog die Hose herunter und zeigte sein verletztes Gesäß. Felicitas genoss den Anblick durchaus und kletterte nun den Hochstand hinunter. Sie zeigte selbstverständlich sofort bereit, sein Gesäß fachgerecht zu verarzten, nahm ihn bei der Hand und zog sich mit ihm in den moosbedeckten, angrenzenden Wald zurück. „Filha de puta!“, schrie nun seine Frau Fiona in Richtung des Portugiesen. Justus verstand auf dem Hochstand die Welt nicht mehr und stieg kopfschüttelnd herunter. Kaum war er auf dem Boden, wurde er von seiner Frau entdeckt. Was er denn hier machen würde, fragte sie sichtlich entrüstet. Er könne, immer wenn sie nächtens nicht zuhause wäre, besonders schlecht schlafen und würde dann einen kleinen Waldspaziergang zur Beruhigung unternehmen. Er konterte weiters mit der Frage, was denn sie denn um diese nächtliche Stunde mitten im Wald zu suchen hätte. Sie antworte, dass sie mit dem Ayurveda-Kursleiter im Mondschein seltene Pilze und Kräuter für die nächste Kur sammeln würde, was ja nun nicht wirklich außergewöhnlich wäre. Sie nahmen sich an der Hand und kletterten gemeinsam auf den Hochstand. Aus dem Wald hörten sie den Portugiesen, der anscheinend schon wieder genesen war und nunmehr lustvolle Laute von sich gab. Das Ehepaar Justus und Fiona war dadurch auf den Geschmack gekommen.Als Justus ein zweites Mal sein Glück fand, sah er den Keiler keine zwanzig Meter vom Hochstand entfernt. Er zielte, drückte ab und zu seiner großen Überraschung konnte der Keiler trotzdem unverletzt entkommen. Durch den Schuss alarmiert, kamen nun auch Felicitas und der Portugiese leicht erschöpft zurück. Die vier sahen sich an, schienen in dieser Konstellation nicht unglücklich zu sein und beschlossen, sich gemeinsam mit dem Fahrrad samt Anhänger auf den Heimweg zu machen. Kurz bevor sie den Wald verlassen hätten, wurden sie von einem Blaulicht und einem Folgetonhorn überrascht. Drei Polizeifahrzeuge mit sieben Polizistinnen versperrten ihnen den Weg. Endlich hatten sie die Wilderer gestellt, es waren zig Schüsse gefallen und im abgedeckten Anhänger musste die Beute versteckt sein. Vier Polizistinnen hoben gleichzeitig die Plane an und entdeckten den Portugiesen bei seinem zweiten Durchgang mit Felicitas. Die Polizistinnen mussten erkennen, dass hier nicht jene Art des Wilderns praktiziert wurde, die sie erhofft hatten. Da sie das Gesäß des Portugiesen sahen, meinte eine Polizistin zu Felicitas, dass sie auf den Einsatz ihrer Nägel bei allem Verständnis für die Situation doch verzichten sollte. Die Polizistinnen wollten den Portugiesen zwar behalten, mussten ihn aber notgedrungen doch ziehen lassen. In den umliegenden Gasthäusern wurde diesmal die vegetarische Woche ausgerufen.
Harald und Michael im Juni 2021
Glückwunsch zum Jubiläum! Ich hoffe auf viele weitere spannende Geschichten.
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