Das Gemälde

Edmund war seit 24 Jahren verwitwet und gefühlt noch immer in einer Art Trauerphase. Im Schlafzimmer hing die Replik „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“, die seine Frau so geliebt hatte. Sogar ihre letzten Worte bezog sie auf diese Replik: „Pass immer darauf auf, es ist das Schicksal unseres Lebens.“ Er verstand nie diese Worte, obwohl er oft darüber nachdachte. Kurz vor dem Sommer säuberte er die Wohnung und staubte unter anderem diese Replik ab. Da sich der Nagel gelockert hatte, fiel diese zu Boden. Er hob sie auf und sah auf der Hinterseite eine kleine Signatur „IVMeer“. Das war für eine Replik doch ungewöhnlich und er machte sich mit dem Gemälde auf zu einem Kunsthistoriker. Dieser kam nach wenigen Minuten bereits zum Schluss, dass das Gemälde echt wäre und rief sofort im Mauritshuis – Museum in Den Haag an. Dort wurde das Original-Gemälde aber nicht vermisst. Nach dem weitere wissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass das Gemälde vermutlich sogar älter datiert war, wurde klar, dass in Den Haag nur eine Reprise hängt. Edmund wurde mit Käuferangeboten überrannt und entschied sich für eine Käuferin, die die Auflage der öffentlichen Ausstellung für sechs Monate pro Jahr akzeptierte. Er war sozusagen dadurch über Nacht um 25 Millionen reicher und am Tag der Ausstellungseröffnung mit dem Original gab er einige Interviews. Viele Besucher drängten sich um das Gemälde und er war gerade beim Gehen, als hinter einem grünen Vorhang eine junge Frau hervortrat. Er blieb kurz wie angewurzelt stehen, das war doch sie, das Mädchen mit dem Perlenohrring, die Mona Lisa des Nordens. „Es ist Zeit für Neues“, hauchte sie. Er nickte und nahm ihre Hand. Als sie das Museum verließen, machten einige Fotografen Fotos und waren über den vermeintlichen Marketinggag begeistert. Sie gingen später ganz vertraut die Straßen von Zeeheldenkwartier hinunter, küssten sich. Sie bestand darauf, ein Gemälde von Art by Tar, einer jüngeren Künstlerin zu kaufen. Sie hängten es in seiner Wohnung im Schlafzimmer an der selben Stelle auf, sie meinte, das Schicksal würde so immer zu weiter verwoben. Es kam ihm vor, als kannte sie ihn schon ewig, wusste, was er brauchte, machte ihn glücklich. Umgekehrt war es genauso, eine innere Verbundenheit, die er sich nie erklären konnte. Nach einigen Jahren, nahm sie einmal für ganz kurze Zeit ihren Perlenohrring ab und er glaubte das selbe Muttermal wie bei seiner verstorbenen Frau zu erkennen. Sie lächelte und er wusste jetzt, das Gemälde war tatsächlich das Schicksal ihres Lebens.

Harald, 11. Juni 2021

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