Leichtmatrose

Als Hedwig auf der Mole sitzend einen beinah zahmen, flugunfähigen Pelikan aus einem Eimer mit Fischresten fütterte, trat auf einmal seitlich neben sie der schon weißhaarige Piet hin und sagte, dass sie doch lieber ihn füttern solle. Er habe bereits in früher Kindheit seine Mutter verloren, sei sein Leben lang zu kurz gekommen und verspüre immer Hunger. Der Pelikan zeterte bedrohlich, als ob er ahnte, dass jemand im Begriff war, ihm seine Nahrung streitig zu machen. Sie finde sein Schicksal sehr bedauerlich, sagte Hedwig zu dem ihr unbekannten Piet. Sie bezweifle aber, dass es sich mit Fischresten zum Guten wenden lasse. Sie habe keine Ahnung vom Hunger, sagte Piet verächtlich, steckte seine Finger in den Eimer, zog ein paar Makrelenköpfe hervor und stopfte sie sich gierig in den Mund. Der Pelikan hackte Piet mit seinem Schnabel die Handrücken blutig. Da ergriff auch Hedwig Partei zugunsten Piets und scheuchte den frechen Vogel ins Wasser, indem sie ihren Eimer mehrmals ausladend hin und her schwang. Nun sei es genug, sagte Hedwig zu Piet. Sie wolle ihm helfen. Er müsse allerdings versprechen, keine Makrelenköpfe mehr zu verschlingen. Bei ihr zu Hause befände sich eine Leichtmatrosenwaage. Auf die wolle sie ihn stellen, um sein Gewicht zu bestimmen. Sobald sie es kenne, werde sie entscheiden, ob sie ihn in ihr Leben einbinden könne. Piet willigte ein und folgte Hedwig zu ihrer Hütte. Neben der Tür stand die Waage, die Hedwig erwähnt hatte. Sie wies Piet an, dass er sich vollständig entkleidete und auf die Waagschale stieg. Während er ihr gehorchte, wuchtete sie auf die gegenüberliegende Schale eine entsprechende Anzahl von Gewichten, bis der Balken sich exakt in die Horizontale einpendelte. Es tue ihr leid, sagte Hedwig zu Piet. Dafür, dass sie ihn in ihr Leben einbinde, sei er leider zu leicht. Er könne aber in dem aufgelassenen Hühnerstall hinter der Hütte Quartier nehmen. Sie werde ihn dann regelmäßig mit Mais füttern, bis sein Gewicht so weit zugenommen hätte, dass er für sie arbeiten könne. Hedwig hielt Wort und versorgte Piet reichlich mit Mais. Einige Monate später hatte Piet endlich das nötige Gewicht erreicht. Hedwig ließ ihn von da an bei sich im Haus wohnen und schenkte ihm ein Fischerboot, damit er zum Makrelenfang aufs Meer hinausfahren konnte. Bevor Piet in aller Frühe zum ersten Mal allein hinausruderte, packte er an der Mole den Pelikan, und steckte ihn in einen Sack. Erst weit draußen auf offener See ließ er den Vogel wieder frei.

Michael, 20. August 2021

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