„Wenn Mutter damals in Tiflis diesen Dompteur geheiratet hätte“, sage ich im Schwimmbad zu meinem Bruder Erich und deute an den Beckenrand, „dann hätten wir jetzt womöglich auch solche Zöpfe wie er.“
„Woher weißt du, wer das ist?“, fragt Erich.
„Mutter, die sich gerade im Umkleidebereich die Haare fönt“, sage ich, „hat es mir vorhin zugeraunt, dass sie ihn kennt aus ihrer Jugend in Tiflis.“
„Mutter hat doch damals auch Löwen dressiert“, sinniert Erich. „In Tiflis.“
„Ganz genau“, lobe ich meinen Bruder. „Ich stelle fest, dass du die richtigen Schlüsse ziehst.“
„Wir sähen albern aus mit solchen Zöpfen“, bemerkt Erich. „Auch der Umstand, dass er jetzt konspirativ zu uns herüberzwinkert, der Dompteur, ändert an diesem Umstand nichts.“
„Mutter war dem Vernehmen nach eine lausige Dompteuse“, sage ich. „Die beiden hätten es nie und nimmer lang miteinander ausgehalten.“
„Vielleicht gerade lang genug, dass sie uns beide noch gezeugt hätten“, sagt Erich. „Dann trügen wir jetzt nicht die Gene unseres aktuellen Vaters in uns, sondern litten stattdessen erbärmlich am Makel dieser lächerlichen Zöpfe.“
„Gut, dass Mutter damals diesen Job in der Erdnussbutterfabrik in Mönchengladbach gefunden hat“, sage ich. „Und gut auch, dass unser Vater dort Maschineneinsteller war.“
„Ein Glück auch“, sagt Erich, „dass es in Tiflis keine Erdnussbutterfabriken gab und dass die Löwen unsere Mutter immer ignoriert haben.“
„Wir hätten aber“, sage ich plötzlich, „auch Mädchen werden können, wenn der Dompteur unser Vater geworden wäre. Dann hätten die Zöpfe gar nicht gestört.“
„Du hast recht“, sagt Erich und kratzt sich nachdenklich am Kinn. „Wenn wir Mädchen geworden wären, dann hätten die Zöpfe sogar gut gepasst.“
„Egal“, sage ich zu Erich und klopfe ihm auf die Schulter. „Komm, wir schwimmen noch ein paar Längen.“
Michael, 3. September 2021