Der in die Jahre gekommene Philosoph Peter Osler ging langsam die Rue Saint-Martin hinunter. Er hatte zuvor einen café lait (nur Touristen würden ihn in Paris café au lait nennen) im Livres getrunken und fühlte sich vielleicht erstmals in Paris heimisch. Es war bewölkt an diesem Tag, eigentlich nicht ungewöhnlich. Seine Professur an der philosophischen Universität in Paris legte er vor einem Jahr nieder, seitdem schrieb er weiterhin nicht unerfolgreich Bücher über das Sein – ja Erich Fromm lässt grüßen – und das wohltuende Gefühl, genug zu haben. Er lächelte, als er die mit Einkaufstaschen bepackten Menschen sah und mutmaßte, dass je weiter sie sich vom Geschäft entfernten, je schneller würde ihr Dopamin-Spiegel sinken und zu Hause würde sich dann wieder diese gähnende Leere breit machen. Als er bei St. Merry vorbeikam, wusste er nicht warum, aber es überkam ihm eine Art Melancholie. Wie lange war er schon in keiner Kirche mehr gewesen? Das letzte Mal wohl mit seiner Ex-Frau bei der Firmung ihrer gemeinsamen Tochter. Das war ein schöner Tag, glückliche Familie, im besten Sinne. Als er die Kirche betrat, kam es ihm wie gestern vor. Er war sich klar, dass er Fehler gemacht hatte. Die Studentinnen hatten ihn angehimmelt und er hätte seine Midlife-crisis auch anders ausleben können. Seine Frau konnte das auf Dauer nicht akzeptieren, vor allem nicht das mit Lola. Er hielt es für die große Liebe, die französische Austauschstudentin für das Abenteuer ihres Lebens. Die Scheidung war die logische Folge. Obwohl er Lola nach Paris nachreiste, trennten sich die Beiden nach nur drei Monaten. Er blieb in Paris. Jetzt hier in der Kirche blieb er im Mittelschiff überwältigend stehen.
Als er auf das Taufbecken, das die Wappen von Ludwig XII. trägt, schaut, denkt er seine ehemalige Familie, seit so langer Zeit das erste Mal, auch zu seiner Tochter hatte er nie Kontakt, das mit Lola hatte sie ihm niemals verziehen. Ohne es kontrollieren zu können, laufen ihm die Tränen die Wangen hinunter. Er wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und möchte gerade aus der Kirche hinausgehen. „Georg, bist du es Georg?“, hörte er eine bekannte Stimme, die von der linken Seite kam. Er dreht sich zur Seite und sieht seine Ex-Frau. Langsam geht er auf sie zu, schaut sie an und beiden wird in diesem Moment klar, dass in der Stadt der Liebe auch ein Neuanfang nicht unmöglich ist. Als sie nach draußen gehen und er seit so langer Zeit seine Tochter sieht, weint er von ganzem Herzen.
Harald, 3. September 2021