Julia saß auf einem Baum und beobachtete wie bunte Blätter im Wind vom Baum zu Boden fielen. Als sie gerade wieder vom Baum heruntersteigen wollte, schloß sie kurz die Augen, um den Moment gut im Gedächtnis zu verankern. Dabei bewegte sie die Hände nach oben und atmete tief ein. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte der Baum plötzlich alle Blätter. Sie sah verwundert nach unten, kein einziges Blatt war zu sehen. Sie suchte am Boden nach Blättern, noch immer kein einziges Blatt. Der Baum sah von unten wie im Sommer aus, sattes Grün, keine Färbung der Blätter. Sie ging zum nächsten, diesmal schon in die Jahre gekommenen Baum, dürre Äste, Blätter am Boden, schloss wieder die Augen, atmete tief ein, hob die Hände. Wiederum ein fulminantes Ergebnis, ein kraftstrotzender Baum stand vor ihr. Sie kam nun auf eine weitere Idee, um diese Fähigkeit auszuprobieren. Was hatten ihre Freundinnen gelästert, als sie vor zwei Jahren, damals 21-jährig, Johann, damals 74-jährig, geheiratet hatte. Sie wäre geldgierig, würde vor nichts zurückschrecken, einfach ekelhaft. Keiner konnte verstehen, dass Liebe über Oberflächlichkeiten stehen würde. Sie ging nach Hause, Johann arbeite gerade im Garten, als sie ihn bat, kurz innezuhalten. Er wunderte sich nicht weiter als sie die Augen schloss. Kaum war sie mit dem Prozedere fertig, stand ein 31-jähriger Johann vor ihr. Er dachte sich nichts weiter, obwohl die Gartenarbeit in der Folge in weniger als der Hälfte der Zeit erledigt war. Auch vor dem Spiegel erschrak er nicht, sonder empfand seine Gestalt als normal. Julia war überglücklich, allein wenn sie an die letzte Nacht dachte. Als sie nächsten Tag einkaufen wollte, bekam sie jedoch einen Schrecken. Die Kreditkarte schien gesperrt zu sein. Als sie bar bezahlen wollte, fand sie nur Schillinge in ihrer Geldbörse. Verzweifelt fuhr sie sofort nach Hause und erzählte Johann von dem Vorfall. Der schien noch nie etwas von einer Währungsumstellung gehört zu haben und meinte nur, sie wären doch Schilling-Millionäre. Die Bankkonten waren verschwunden, im Safe befand sich zwar noch genug Bargeld, um ein angenehmes Leben genießen zu können, leider aber wieder nur Schilling-Scheine. Sie rief bei der Nationalbank an, es würde sich schließlich um einen Notfall handeln und versuchte irgendwie das ansehnliche Vermögen im Tresor doch noch in Euro wechseln zu können. Alles vergeblich, selbst der danach kontaktierte Finanzminister konnte sich nicht erinnern, ob es je Schillinge in Österreich gegeben hatte, außerdem hatte er seinen Laptop gerade verlegt, sodass er hier auch nicht weiter recherchieren könnte. Als sie ihre Freundinnen wieder traf, meinten diese, dass sie es nie verstehen würden, warum sie einen zwar extrem gutaussehenden, aber völlig verarmten Mann heiraten konnte. Das wäre doch naiv, unverantwortlich und wohl rein körperlich. Nach zwei weiteren Tagen suchte sie eine als Hexe bekannte Frau auf und klagte ihr die Vorkommnisse. Anscheinend sollte nur ein Gegenzauber helfen, weshalb sie für geraume Zeit die Nächte im Kopfstand auf Bäumen verbrachte, die Augen dabei weit aufriss, ausatmete und die Hände nach unten bewegte, alles vergebens. Seit zwei Monaten ist sie als Verjüngungsspezialistin an einer Schönheitsklinik beschäftigt und dürfte in Kürze wieder Millionärin sein. Ihre Spezialität sind alternde, männliche Politiker, die die Hoffnung hegen, Österreichs jüngsten Bundeskanzler abzulösen.
Harald, 24. September 2021.