Biberle

Der Rennfahrer Biberle, der mit Vornamen Erwin hieß, gewann einmal ein Rennen in Erolzheim. Ob es ein Radrennen oder ein Autorennen war, ist nicht überliefert. Jedenfalls erhielt er bei der Siegerehrung einen Lorbeerkranz und wurde von den drei Ehrenjungfrauen auf dem Siegertreppchen so stürmisch, feucht und lang anhaltend geküsst, dass die Imkertochter Mechthild, Biberles Verlobte, die die Szene aus nächster Nähe beobachte, ernsthaft mit dem Gedanken spielte, ihre Verbindung zu dem Rennfahrer auf der Stelle zu lösen. Biberle selbst beendete vorerst die Verwirrung, indem er unmittelbar nach der Zeremonie Mechthild seinen Lorbeerkranz aufs Haupt drückte, vor ihr auf die Knie fiel und sie um Verzeihung bat. Er habe sich es zwar nicht gewünscht, dass die Damen ihn so heftig abknutschten, sagte er zu Mechthild. Vielleicht hätte er sich aber zu wenig dagegen gewehrt. Die Strafe für sein Versäumnis sei aber bereits im Anzug, seufzte Erwin Biberle. Er vertrage nämlich die Küsse der meisten Frauen nicht und spüre bereits, dass sich in seinen Mundwinkeln Fieberblasen bildeten. Er behielt recht. Als sie in Mechthilds kleiner Dachgeschosswohnung eintrafen, die über der elterlichen Imkerei lag, war Biberles Mundpartie bereits mit dicken Pusteln überzogen, die heftig juckten. Zu allem Überdruss flog durchs Fenster ein Bienenschwarm herein, der durch den ihm unbekannten Duft des Lorbeers, der immer noch als Kranz auf Mechthilds Haupt saß, so betört wurde, dass die Bienen Mechthild zu Dutzenden in Kopf und Hals stachen, was sie in solcher Heftigkeit zuvor noch nie erlebt hatte. Mechthild, die mit gelegentlichen Bienenstichen aufgewachsen und an das Gift in geringeren Dosen einigermaßen gewöhnt war, befand zu keiner Zeit in Lebensgefahr. Allerdings verleiteten die zahlreichen Schwellungen, die an ihrem Kopf bizarre Kegel entstehen ließen, Biberle zu völlig unangemessenem Gelächter. Als Mechthild ihren gackernden Verlobten, um dessen Mund mittlerweile hässliche Blasen üppig blühten, eindringlich bat, dass er endlich schwieg, und als Biberle sich trotz dieser Aufforderung nicht wieder in den Griff bekam, sondern ungeniert weiterschallerte, wurde es Mechthild klar, dass ihr Verlobter und sie auf Dauer nicht zusammenpassen würden. Sie atmete tief durch, gab ihm auf der Stelle den Laufpass und setzte ihn vor die Tür. Biberle, der nun keine Bleibe mehr hatte, zog in einen leerstehenden Wohnwagen direkt neben der örtlichen Rennstrecke. In den Folgejahren gewann er in souveräner Manier alle Rennen, die in Erolzheim stattfanden. Obwohl er all seine glanzvollen Siege ausschließlich Mechthild widmete, ließ sie sich nicht mehr erweichen und blieb für den Rest ihres Lebens allein.

Michael, 22. April 2022

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