Kess war ein Attribut, das nur von anderen vergeben werden konnte und das eigene Hinarbeiten war ein schier auswegloses Unterfangen. Kess waren immer nur junge Frauen, die Begrifflichkeit aber leider viel zu schnell abgenutzt. Das hinderte aber eine in die Jahre gekommene kesse Biene nicht daran, diesen Lebensstil weiter zu pflegen. Sie entschied, wann sie nach draußen ging, obwohl sie drinnen bleiben sollte. Sie entschied, wen sie traf, obwohl das ihre Freundinnen damals schon nicht goutierten. Sie entschied, wann sie für irgendetwas zu alt war, obwohl die Nachbarn und vor allem die Nachbarinnen nur noch den Kopf schüttelten. Das Leben war für sie doch viel zu kurz, um wirklich alt zu werden. Ihr deutlich jüngerer Freund würde doch im Handumdrehen auch nicht mehr ganz frisch aussehen, also beschloss sie, ihr Leben ganz nach ihren Vorstellungen zu gestalten und widmete sich seitdem der Imkerei. Die Nachbarn duellierten sich immer noch darum, wer das größere Auto und das schönere Infinity-Pool hatte. Reichtum hatte doch nur den einen Zweck, nicht mehr arbeiten zu müssen. Sie verstand nie, warum Reiche heute noch reicher werden wollten und dafür auch hart arbeiteten. Jedenfalls konnte sie seit der Mitte ihres Lebens von der Imkerei gut leben und der nahe gelegene See war sowie schöner als jedes nach Chlor stinkende Gartengewässer. In ihrem Garten summte es zu ihrer Freude nur so, während die Nachbarn über die lästigen Wespen sich dauernd beschwerten. Mit dem reichsten Nachbar verstand sie sich trotzdem ganz gut, war jener doch von ihrem Honig besonders begeistert. Seine Frau, eine jüngere Kölnerin, die vor fast einem Jahrzehnt nach Österreich wegen des Geldes, nein, wegen der Liebe gezogen war, goutierte den engen Kontakt der beiden nicht. Als sie zu allem Überdruss vor über einem Monat auch dreimal von der gleichen Biene aus Nachbarsgarten gestochen wurde, wuchs daraus echte Feindschaft. Dass nur Wespen mehrmals zustechen könnten, wurde nicht akzeptiert. Selbst ihr Mann konnte sie trotz zahlreicher im Internet recherchierter Artikel nicht davon überzeugen, dass Bienen das mehrmalige Stechen nicht zu eigen sei, wie Männer – so fügte er süffisant an – ja eigentlich auch nicht, zumindest nicht in einer so kurzen Zeit. Die Kölnerin grüßte die Nachbarin nicht mehr und verwandelte den eigenen Garten dank verschiedenster Pestizide in eine Chemiehölle. Kesse Bienen wußten schon immer, wann es Zeit war, wieder zu gehen. So kam ein großer Umzugswagen und selbst die Bienen wurden mitgenommen. Der Nachbar kam gerade nach Hause und war wirklich traurig, dass die Imkerin wegzog. Als seine Frau schrie, dass er sofort kommen sollte, da beim Pool zwei Zentimeter Wasser fehlten und ihr dies das Badevergnügen gehörig vermiesen würde, lächelte er, stieg in den Umzugswagen, warf seinen Autoschlüssel des S-Klasse-Mercedes gekonnt in den Pool und sie sah nur mehr das Winken ihres Gatten. Sein ehemaliger Wohnort verwandelte sich nach kurzer Zeit in ein graues Etwas, nur noch ein paar Krähen und der Ex-Freund der Imkerin ließen sich dort nieder, das Summen war verstummt. An der Algarve summte es dagegen mehr als jemals zuvor. Eine ältere, kesse Biene und ihr ehemaliger Nachbar hatten sich ein kleines Haus gekauft und genossen die Leichtigkeit des Summens und des regelmäßigen Stechens. Die Nachbarn hatten dort damit auch keine Probleme.
Harald, 22. April 2022