Leihgehirne

Ich bin verliebt in meine Nachbarin, die sich regelmäßig nackt im Garten sonnt. Sie ist Atomphysikerin. Ich würde mich gern verbindlich mit ihr paaren. Weil ich kein Draufgänger und kein Geistesriese bin, rät mir ein Freund zu tierischen Leihgehirnen. Damit könne man, sagt er, seine kognitive Leistungsfähigkeit situationselastisch steigern. Vom Chirurgen meines Vertrauens lasse ich mir ein Gorillagehirn einsetzen. Als ich danach die Nachbarin im Garten erblicke, halte ich sie für ein Affenweibchen. Ich breche durchs Gebüsch und will lüstern über den herrlichen Körper herfallen. Leider verliere ich mein Leihgehirn viel zu früh im Sprung. Die Nachbarin vermöbelt mich mit einem Baseballschläger, der griffbereit neben ihr liegt, und schlägt mich in die Flucht. Nach dem Abklingen der Schwellungen lasse ich mir ein Maulwurfsgehirn einpflanzen. Ich grabe mich durchs Erdreich unter der Hecke und komme erst unmittelbar neben meiner nackten Nachbarin, die ich bei dieser Gelegenheit für eine Maulwürfin halte, wieder an die Oberfläche. Abermals kommt der Baseballschläger zum Einsatz. Schon beim ersten Hieb verliere ich das Leihgehirn. Die Nachbarin prügelt mich gnadenlos zurück unter die Erde. Ich trete den Rückzug an, gebe aber nicht auf und lasse mir das Gehirn einer Drohne implantieren. Diesmal fliege ich übers Gebüsch in den Nachbargarten und entdecke sofort das Rechteck aus bunten Blüten, das mich magisch anzieht und an dessen Rand ich meine Bienenkönigin ausmache, zu der ich sofort hingleite, um sie schnellstmöglich zu begatten. Diesmal geht alles glatt. Ich komme ungehindert zum Stich und verausgabe mich völlig. Das Drohnengehirn, das ich nun nicht mehr brauche, gebe ich danach an den Verleih zurück. Nachdem wir ja nun ein Fleisch gewesen sind, fühle ich mich am nächsten Tag endlich Manns genug, um meiner geliebten Nachbarin auch ohne die Unterstützung durch ein Leihgehirn unter die Augen zu treten. Ich entkleide mich und zwänge mich durchs Gebüsch in den Nachbargarten. Als die Nachbarin mich sieht, hebt sie sofort ihren Baseballschläger. Sie sei grausam, seufze ich. Weil wir uns gestern als Bienen gepaart hätten, gehörten wir doch von nun an für immer zusammen. Sie sei am Vortag gar nicht im Garten gewesen, faucht die Nachbarin, aber nun wisse sie endlich, welcher Idiot das Ventil ihrer bunten Luftmatratze völlig zerstochen hätte. Das würde ich ihr büßen. Mein einziger Trost ist, dass ich diesmal schneller bin als sie. Ich entwinde ihr den Baseballschläger und entsorge ihn auf der Flucht in den Bach, der an unseren Grundstücken entlangfließt. Ich ziehe in ein anderes Haus in einem anderen Viertel, wo alle Nachbarn Männer sind.

Michael, 06. Mai 2022.

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